2024
Dott.ssa Mara Folini Ceccarelli, Direktorin Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona
Im Rahmen des Themenschwerpunkts, mit dem das Museum die bedeutendsten Künstler aus dem Tessiner Gebiet zur Geltung bringt, zeigt diese Ausstellung die jüngeren Werke des Künstlerehepaares Ruth und Giancarlo Moro aus Cavigliano, die aus über fünfzig Jahren des Zusammenlebens und enger künstlerischer Auseinandersetzung hervorgingen.
Trotz ihrer verschiedenen Stile und Techniken scheinen die Werke des einen in denen des anderen nachzuhallen, durch die Assonanz in der Farbwahl, die gleiche rigorose Analyse in der Komposition und vor allem durch die gleiche Grundatmosphäre (bzw. „Gemütszustand“), die tief harmonisch und essenziell ist: In diesem Ansatz verbindet sie das gemeinsame Interesse für die orientalische Formenwelt. Vor ihren Werken hat man den Eindruck, in eine schwebende Dimension jenseits von Zeit und Raum versetzt zu sein, in der alles im Unisono unendlich nachklingt.
Ihre „kostbaren“ Werke, die in langen Auswahl- und Syntheseprozessen entstehen, sind auf Essenzialität, auf absolute und holistische Fülle des Universums ausgerichtet: wo alles, Chaos und Ordnung, die gleiche intrinsisch harmonische Beziehungsdimension erlebt. Zwischen Mikro- und Makrokosmos gibt es keinen Unterschied, alles wird von einem Fluss, von einer Energie, von einem immer im Werden begriffenen unterschwelligen Licht der Beziehungen getragen, das aus den fruchtbaren/vitalen organischen Strukturen von Ruth und aus den „spirituellen“/mentalen Farb-Formen von Giancarlo leuchtet, die relevant werden für das Verfahren und zur Harmonie und zum Gleichgewicht des Universums neigen, in dem das Eine Alles und alles miteinander verbunden ist. Es versteht sich von selbst, dass Ruth und Giancarlo Moro mit ihrer kosmozentrischen Vision (die einen nicht binären, sondern relationalen, integrierten Erkenntnisprozess impliziert) in ihren abstrakten Werken miteinander verbundene Energien, Schwingungen, Ströme mit einem hohen psycho-physischen und emotionalen Wert aufweisen, die anregend, kinetisch, vibrierend auf den Betrachter wirken und ihn auffordern, in einer zu allererst offenen, meditativen und kontemplativen Einstellung und erst dann in der Reaktion eine Beziehung zu ihnen herzustellen. Die gleiche meditative Einstellung liegt ihrem künstlerischen Vorgehen zugrunde, das langes, konstantes Arbeiten erfordert, mit Sorgfalt und aufmerksamer Bearbeitung umgesetzt und erprobt wird, mit offener, vorurteilsfreier Neigung, mit intensiver Konzentration auf das „Leben“ in der Erwartung, dass daraus die Inspiration entspringt.
Beide absolvierten ihre Ausbildung im Rahmen der Avantgarden der sechziger Jahre in der ideellen Folge jener typisch nordischen analytischen Linie, die von den abstrakten Erfahrungen Kandinskys und Klees über das Bauhaus zu den radikalen minimalistischen Lösungen der siebziger Jahre gelangt, die bereits 1915 im berühmten schwarzen „Viereck“ von Kasimir Malewitsch vorweggenommen wurden. 1971 im Tessin reifen ihre Überlegungen im abstrakten Bereich zu einem minimalistischen, noch abstrakteren essenziellen Synthetismus.
In ihrem Haus in Cavigliano, eingebettet in der Natur und den natürlichen Rhythmen folgend, teilen Ruth und Giancarlo ihr Atelier „zwischen Himmel und Erde“ in einem alten Bauernhaus. Sie arbeitet im Erdgeschoss, näher an der Erde und den empirischen Experimenten, er im Obergeschoss, näher am Himmel und eher zu philosophischen Spekulationen geneigt.
Ruth im Erdgeschoss, in Bodennähe, berührt die Erde mit Händen, lässt sich von den wunderbaren Früchten der Natur – Blätter, Brakteen, Balgfrüchte, Flügelnüsse, Stiele – überraschen, die sie mit botanischer Sorgfalt sammelt und selektioniert. Sie achtet auf die formalen und evolutiven Eigenschaften ihrer Objekte und ihren Jahreszeitenbezug und ist dabei völlig auf sich selbst konzentriert, in der Absicht, die „Geheimnisse“ zu enthüllen, ihr Wesen, ihre erstaunlichen Strukturen, die durch ein immer wachsendes, vitales Fasernetz miteinander verbunden sind. Indem sie die Natur mit einem geschickten, handwerklich komplexen Verfahren der Bereinigung des Materials zum Rohstoff ihres Schaffens macht, arbeitet sie weiter in der Tiefe, denn sie beseitigt den weichen Teil des pflanzlichen Materials, um die verborgenen Strukturen freizulegen und die intrinsisch eigenständige, potentiell keimfähige pflanzliche Struktur zu erhalten – diese bildet das Ausgangsmaterial ihrer Kreationen. Ruth lässt sich von den pflanzeneigenen vitalen Verläufen überraschen, die in der Materie ihrer pflanzlichen Strukturen frei von Farben hervorgehoben werden, und stellt sie zu sorgfältigen Texturen mit expressiven Formen zusammen, die einmal komplizierter oder geometrischer, dann auch strahlender oder düster, aber immer lebendig sind, im Einklang mit dem unterschwelligen Prozedere der Natur. Diese Werke, die insgesamt mit gewissenhafter, fein ziselierter Präzision geschaffen sind, manchmal frei vom Träger, wie Schleier im Raum, andere integriert in stets handgefertigte Papierunterlagen oder mit Frottage bearbeitet, evozieren eine vernetzte Natur; sie sind ebenso essenziell in ihrer Konkretheit als natürliche Elemente wie unendlich lyrisch und poetisch in ihrer tief empathischen, regenerierenden malerischen Umsetzung.
Giancarlo im Obergeschoss destilliert die kalten, reinen Ölfarben des Himmels (oder des Wassers) – Blau, Grün, Indigo – oder seltener die warmen Töne der Sonne – Rot, Gelb, Orange – und erforscht das unendliche Potenzial bei der eigenständigen, prozesshaften Strukturierung in Rastern und in einer absoluten, fast asketischen räumlichen Fläche. Mit einer gelehrten wissenschaftlichen Strenge und einem Blick auf die Mechanismen der Wahrnehmung (Optik, Gestalt, Kinetik) wägt und experimentiert er mit den innewohnenden Möglichkeiten und Interferenzen der reinen Farbe, die er aufträgt und zu unendlichen Paletten und Abstufungen von Tönen und Nuancen kombiniert. Dabei kalibriert er expressive Gewichte und Gegengewichte, schwer wie Steine, leicht wie der durchscheinende Himmel. Als Grundlage nutzt er eine senkrechte Rasterstruktur, die perfekt auf der Leinwand umrissen ist, und konstruiert architektonische „synästhetische“ Texturen mit ausdrucksstarker Valenz auf psychologischer ebenso wie auf taktiler Ebene, denn seine Farben sind das eigentliche Thema, das er in seinen essenziellen, selbstgenügenden Facetten auslotet. So wie die Farben nach ihrem emotionalen Gehalt gewählt werden, um dem Betrachter starke Botschaften/Konzepte zu vermitteln, so nimmt sich die Auktorialität des Künstlers zurück, um Raum für die unterschwelligen Prozesse der Farbe zu lassen, die wissenschaftlich erkundet werden, damit ausser der Form auch das ihr innewohnende Licht hervortreten kann: die erste Ur-Essenz der Farbe. Diese komplexe Kunst erschliesst sich auf ersten Blick nicht vollständig, sie verlangt vom Betrachter die gleiche lange Aufmerksamkeit wie von ihrem Schöpfer, bevor sie in ihrem tiefsten Wesen erfasst werden kann. Der Raum der Leinwand ist ein stiller Bereich, eine „andere“ Zone, in der das Auge des Betrachters dank der ungreifbaren Energie des Lichtes und der evozierenden Kraft der Stille Neues aufbauen kann, wenn es sich denn von den inneren Dynamiken der Gewebe transportieren lässt, die mit Fülle und Freiräumen spielen, als wären sie lebendig, und je nach Blickbewegung in einer rein subjektiven, individuellen Dynamik erscheinen und verschwinden, denn der Betrachter ist nicht mehr passiv, sondern wird zum aktiven Element des Werks.
Mit ihrem ausgeprägt analytischen, präzisen Ansatz gehen sowohl Ruth als auch Giancarlo Moro in die Tiefe, sortieren, kalibrieren, bereinigen sorgfältig jedes „materielle“ Element ihrer Kunst – ob Farbe oder Pflanze –, um sein Wesen oder jenen ihm innewohnenden „inneren Klang“ im Sinne Kandinskys wahrzunehmen, der ganz mit ihrem inneren Fühlen verschmilzt, bis keine Distanz mehr zwischen innen und aussen besteht. Ebenso wie ihre Kunst den langen Prozess der ehrlichen, authentischen „Selbstreflexion“ im Einklang mit dem Strom des Lebens bezeugt, so konzentriert sie sich auch darauf, intuitiv/rational jenseits der Oberflächlichkeit der Welt jene gründende Energie zu erfassen, oder jenes irgendwie „Spirituelle“, das alles zusammenhält. Beide gehen mit wissenschaftlicher Strenge an ihre künstlerische Recherche heran, erschaffen minimalistische Gewebe, ebenso abstrakte wie vibrierende zeitlose Gefühle und Emotionen, und erinnern uns an eine miteinander vernetzte Natur, in der die Konkretheit der natürlichen Welt sich mit der poetischen Dimension der bildlichen Ausdruckskraft vereint.
Man bleibt nur schwer unbeteiligt vor den Werken von Ruth und Giancarlo Moro, die aus langen, gründlichen, radikalen Studien fast wissenschaftlicher Art hervorgehen, die auf das Essenzielle gerichtet sind, in denen handwerkliche Meisterschaft und künstlerischer Reiz sich ununterbrochen vereinen. Sie versetzen uns in einen „schwebenden“ Raum mit unendlichen möglichen Beziehungen und rufen ein tiefes Gefühl von Harmonie hervor, das uns zur Kontemplation und innerem Wohlbefinden führt. Hier besteht kein Abstand mehr zwischen Erde und Himmel, zwischen Innen und Aussen, zwischen Mikro- und Makrokosmos, denn alles ist eingetaucht in eine friedliche, harmonische Energie, die einmal fröhlicher, einmal düsterer ist, aber immer schwingt.
In diesen „Spiegelungen“ vermittelt uns das Künstlerehepaar zweifellos die Botschaft, unser psycho-physisches Wohlbefinden und unseren Planeten rational und liebevoll zu pflegen und der Natur in uns und ausserhalb von uns im Einklang mit dem Universum wahrhaft zuzuhören.
2024
Emanuela Burgazzoli
„Da, wo das Zentralorgan aller zeitlich-räumlichen Bewegtheit
– heisse es nun Hirn oder Herz der Schöpfung, alle Funktionen veranlasst,
wer möchte da als Künstler nicht wohnen?
Im Schosse der Natur, im Urgrund der Schöpfung,
wo der geheime Schlüssel zu Allem verwahrt liegt?“
Paul Klee
Der Archipel Ruth und Giancarlo
Wie alle wahren Künstler besitzen auch Ruth und Giancarlo Moro die Fähigkeit, sich in jenen Grenzgebieten aufzuhalten und zu bewegen, in denen die Schöpfung sich in eine wunderbare Verkörperung augenscheinlicher Widersprüche umsetzt. Sich auf ihr Schaffen einzulassen bedeutet, einen Archipel naher, aber ganz verschiedener Inseln zu erforschen, die sich durch eine starke Identität und eine ganz eigene Sprache auszeichnen, welche von Echos und Anklängen des jeweils anderen lebt; dies ist möglich dank der tiefen Gefühlsbindung und geistigen Komplizenschaft, die das Ehepaar seit jeher in einer fast symbiotischen Beziehung vereint. Wenn man ihr Atelier im Ortskern von Cavigliano betritt, das räumlich so aufgeteilt ist, dass jeder unabhängig arbeiten kann und dennoch ein enger Kontakt besteht, lernt man auch ein Ökosystem kennen, das im Laufe der Jahrzehnte im künstlerischen und menschlichen Zusammenleben aufgebaut wurde; ein Raum, der von unsichtbaren Energieströmen durchzogen wird, ein Schweigen, das von Andeutungen einer Zustimmung, fragenden Blicken, erhellenden Bemerkungen des einen zur Arbeit des anderen durchsetzt ist: Dies alles muss man sich wie ein ungreifbares, aber deutlich spürbares Gewebe vorstellen, als befände man sich in einem Kräftefeld.
Ruth Moro
Ungreifbar, aber doch spürbar: Man kann von diesen beiden Adjektiven ausgehen, um in Ruth Moros künstlerische Welt einzutauchen, die auch in ihren jüngeren Arbeiten, die zum Teil hier ausgestellt sind, ihren Weg als Schöpferin von erstaunlichen „botanischen Metamorphosen“ fortsetzt und damit an die Hauptstränge anschliesst, die bereits 2018 in der Ausstellung im Museo cantonale di storia naturale zu sehen waren. Die in den letzten Jahren entstandenen Serien – Punti e contrappunti, Onda su onda, Variazioni su fondo nero – laden uns zur Betrachtung neuer Strukturen und neuer Rhythmen aus Kontraktionen und Pulsationen ein, die die von Ruth Moro bearbeiteten Tafeln und Leinwände zum Schwingen bringen.
Den Ursprung dieser Werke bilden die zarten Strukturen der Brakteen der Hydrangea quercifolia, von Follikeln der Firmiana simplex und Fruchtflügeln des Ahorns: Sie werden in einem abgestuften Verfahren präpariert, das die Künstlerin im Laufe der Jahre entwickelt hat. Diese Folge von Gesten und Phasen erfordert sorgfältige Bewegungen, Zeit und Mühe; eine handwerkliche Vorarbeit, die zum wesentlichen Bestandteil des schöpferischen Prozesses wird. Ruth Moro folgt dabei einem präzisen – fast magischen, fast alchemistischen – Ritual, um die zarte Struktur eines Pflanzenteils zu extrahieren und es in ein künstlerisches Zeichen zu verwandeln, das zum tragenden Element oder elementaren Partikel eines grösseren visuellen Entwurfs wird. Man könnte sagen, dass ihre Werke in dem Moment entstehen, in dem sie die Pflanzen sammelt, oder, wenn man es genau bedenkt, sogar vorher, aus einer Intuition oder einem Vermerk der Künstlerin im Geiste bei einem Spaziergang; es folgt dann eine Phase der „körpernahen“ Auseinandersetzung mit diesem „Rohstoff“, in der die Künstlerin die Pflanzenteile sorgfältig wäscht, bleicht, spült, trocknet und schliesslich presst, um ihre zerbrechlichen verborgenen Gerüste herauszuarbeiten, die nach Grösse und Form sortiert und katalogisiert werden. Und erst in einer letzten Phase, der eigentlichen Erschaffung des Werks, werden diese winzigen pflanzlichen Strukturen mit enormer Geduld auf der Leinwand oder Tafel zu Kompositionen zusammengesetzt, die überraschend kompakt und formal kohärent sind.
Aus diesen Kompositionen geht eine innere Bewegung hervor, die in regelmässigen rhythmischen Sequenzen zum Ausdruck kommt, so zum Beispiel in der Serie Variazioni sul nero; hier erkennt man geometrische Schemata mit fast grafischer Strenge als Ergebnis einer Methode, die vorbereitende „Raster“ nutzt. Diese werden zum Teil einer dialektischen Dynamik, wenn die einzelnen Leinwände oder Tafeln zu Diptychen und Triptychen zusammengestellt werden, wie in der Serie Punti e contrappunti. In der Werkgruppe Da punto a punto ist das Schema auf ersten Blick weniger erkennbar, bei aufmerksamer Betrachtung treten kreisförmige Patterns hervor, die die Künstlerin wahrscheinlich nur in der langen Zeit erreichen kann, die das Zusammensetzen der winzigen Brakteen für den Untergrund erfordert – jene Geste der Hand, die sich von den Unterschieden der pflanzlichen Formen in Grösse und Ausrichtung auf dem jeweils weissen, schwarzen oder blauen Hintergrund leiten lässt. Der Wechsel der Farben und die Einführung künstlicher Elemente (die farbigen Dot Stickers in Punti e contrappunti, die auch an die „Composizioni resistenti“ von Adriano Pitschen erinnern) tragen dazu bei, eine Dimension der Tiefe in der zweidimensionalen Leinwand zu erzeugen, fast wie malerische Reliefs. Wir wären dann vor einer originellen, erneuerten Form der Op Art, jener besonderen abstrakten Kunst, die im Spiel mit Formen- und Farbkombinationen optische Effekte erzeugt, um die Illusion eines dreidimensionalen Raums herzustellen; aber die Analogie endet hier, mit dem Ehrgeiz, eine Ordnung zu bewahren, die bei der Künstlerin aus Cavigliano vielleicht einem rhythmischen Bedürfnis entspricht und auf die fernen Architekturen einer kosmischen Karte oder des unendliche Kleinen verweist.
In Werken wie Variazioni su nero, Variazioni in blu oder Tra i verdi wird die Komposition von einem geometrischen Schema beherrscht, während die pflanzlichen Strukturen in der Serie Blu (Blu I und II) die Fläche wie ein informelles All-over bedecken und gestische Raster bilden, die an Kompositionen von Mark Tobey erinnern. Es scheint passend, hier die Worte des Künstlers Enrico Castellani zu zitieren: „Was innerhalb der Oberfläche passiert, ist zufällig (…), eine Zufälligkeit, die von dem kontrolliert wird, was ich am Rand angeordnet habe (…), die Zufälligkeit wird von der arithmetischen Progression erzeugt“ . Diese Abstraktion erscheint bei Ruth Moro wie ein Hauch von Musik, die sich wie eine Partitur mit ihren Kontrapunkten und Atemzeichen über die Tafel oder die Leinwand zieht; eine Partitur, in der die Künstlerin sorgfältig leere und volle Intervalle ins Gleichgewicht setzt, indem sie das natürliche und das künstliche Element abwechselt, mit Tonkontrasten spielt, die künstlerische Geste und die botanische Morphologie vermischt in einem Prozess der Ästhetisierung der Wissenschaft, die im Bereich der Biologie mit der Figur von Ernst Haeckel begonnen hatte.
Auf ihrem Weg arbeitet Ruth Moro mit wechselnden Grössen, von jenen kleinen über mittelgrosse bis zu monumentalen Formaten, in denen das malerische Universum erweitert und die Effekte der Geste verstärkt werden; sie beschäftigt sich auch mit chromatischen Experimenten mit der Wahl von absoluten Farben wie bei den Grossformaten Bande notte e Bande giorno. Mit diesen hat die Künstlerin zwei prächtige monochrome Werke geschaffen, deren zarte filigrane Pflanzenstrukturen sich mit dem malerischen Raum vereinen und gleichzeitig zu Zeichen, Streifen oder „Rillen“ werden, wie man sie in regelmässigen Intervallen auf gepflügten Feldern sieht. Die Verwendung edler Farben wie Silber und Schwarz oder Nachtblau macht diese Werke zu fast esoterischen Verweisen auf andere Dimensionen.
In den Drucken (Segni di idrangea), einer Art Derivat der Gemälde, arbeitet die Künstlerin mit Frottage; der Abdruck der pflanzlichen Strukturen bleibt sichtbar, moduliert in einer Reihe von Farbvarianten auf einer zugrunde liegenden Graupalette und von sequenzierten Schemata. Und auch hier ist der Eindruck, dass ein Zittern die Oberfläche überquert, vitale morphologische Strukturen in Bewegung sind wie Mikroorganismen, die der Betrachter am Mikroskop beobachtet und die von ihm in einem entscheidenden Moment überrascht werden, dem Übergang vom Ur-Chaos zur Ordnung der Schöpfung: Dies ist einer der Momente, in denen man sich bewusst wird, dass die Komponenten von Ruth Moros Kunst hinlaufen auf jenen unmöglichen Raum, „in dem ungegenständliche Abstraktion und natürliches Element koexistieren“ .
In ihren Werken spürt man immer eine subtile Kraft, die sich von der Oberfläche zu lösen scheint. Diese Kraft sollte nicht überraschen, denn wenn es stimmt, dass bei der Präparation von Heilpflanzen auch der geistige Zustand des Schamanen, der die Pflanzen sammelt, auswählt und vorbereitet, eine Rolle spielt, dann können wir annehmen, dass auch die pflanzlichen Strukturen von Ruth Moro ihre spirituelle Haltung, die subtile Energie der Seele, die sie präpariert hat, bewahren und bergen. Eher als vor reinen Kompositionen hat man manchmal den Eindruck, vor Schwellen zu stehen, bei deren Überschreiten wir die Chance haben, das Ich aufzulösen, vielleicht sogar Bewusstsein und Wissen zu erweitern; besonders vor den Grossformaten kann man mit Körper und Geist eintauchen und fühlt sich nach einiger Zeit erleichtert durch die Entdeckung eines geheimen Kodex – vielleicht ist es der Pulsschlag, der dem Leben innewohnt.
Giancarlo Moro
Wie auf einem Weg, der parallel und komplementär zu den Werken seiner Frau Ruth verläuft, empfinden wir die Werke von Giancarlo Moro. Seine Gemälde bieten dem Betrachter ein Abenteuer des Blicks, der nach und nach vom malerischen Raum erfasst wird, um am Ende völlig davon aufgesogen zu werden – allerdings unter der Bedingung, dass man sich genügend Zeit nimmt, um seine Werke aus der Nähe und im Abstand von wechselnden Standpunkten aus zu betrachten. Diese abstrakte Malerei, befreit also von mimetischen Sorgen, „fokussiert und konzentriert sich ganz auf die Bildfläche“ und hat in den jüngeren Arbeiten ihre Instrumente und ihre Vokabular noch weiter verfeinert.
Auch in diesen aktuellen Serien bestätigt Giancarlo Moro seine Fähigkeit, den Bildraum sowohl geometrisch als auch malerisch zu gliedern (wie seinerzeit Konrad Tobler bemerkte) und Strukturen zu erzeugen, in denen vertikale und horizontale Linien im gleichen Gemälde aufeinander folgen und die geometrische Matrix des Quadrats wiederkehrt als Ergebnis der „Raster“ und der Kreuzung von Linien oder als sichtbares Element eines unsichtbaren Schachbretts. Zu diesen strengen, essenziellen Strukturen, die die Bildfläche auch zu einem architektonischen Raum machen, kommen die Recherchen an tonalen Übergängen und Farbkombinationen, am Kontrast zwischen Texturen verschiedener Konsistenz, die Giancarlo Moro durch Auflösung ineinander gleiten lässt und damit fast unwahrnehmbare Nuancen kreiert. In einigen Fällen entstehen auf der Leinwand in der Mitte Lichtrillen, die neue Wahrnehmungsräume öffnen, fast wie Schlitze zu anderen Welten, die der Bildfläche unerwartete Tiefe verleihen.
Wir stehen vor einem augenscheinlichen Paradox, wie es der Maler Hans Hofmann formulierte, das eine dem Bild innewohnende Spannung mit einem Spiel der Kräfte in Expansion und Kontraktion erzeugt . Aber der malerische Raum von Giancarlo Moro gehört zur geometrischen Strenge der konkreten Kunst der Zürcher Schule, berührt die asketische Strenge von Agnes Martin und gelangt bis zu den „Lichträumen“ des lombardischen Künstlers Antonio Calderara. Denkt man an die Künstler, die in diesem Gebiet wirkten, könnte man auch den Deutschen Erich Lindenberg und seine Quadri spaziali oder seine Quadri d’ombra hinzufügen, in denen man eine analoge Fähigkeit, zwischen Schatten und Licht zu zögern, zwischen Form und Antiform, sowie eine strenge Raumaufteilung erkennt. In Giancarlo Moros Gemälden erobert die Farbe selbst (in kalten Hellblau- und Grüntönen) den Raum und man nimmt ein verborgenes Zittern wahr, das die Komposition durchläuft und sich in einem Gesamteindruck von Harmonie und scheinbarer Befriedung auflöst.
Scheinbar, weil eben Moros Malerei – so unser Eindruck – nie aufgelöst, befriedet ist, sondern wie die Seiten eines persönlichen, inneren Tagebuchs auf eine Schwelle blickt, um zu erkennen, was danach kommt; sie setzt sich dann in Variationen und immer neuen Kombinationen fort, die seine Malerei auf verschiedene Intensitätsstufen und zu verschiedenen kompositorischen Ergebnissen führen. Zu diesem inneren Vokabular kommen andere Aspekte, die das Erlebnis des Betrachters komplexer gestalten: die Beziehung zwischen Leinwand und Wand, denn die Malerei geht über die Grenzen des Bildes hinaus, sie vermag sich vom Raum der Wand zu lösen, als handelte es sich um ein malerisches „Basrelief“; die Dialektik zwischen Horizontalität und Vertikalität (innerhalb und ausserhalb des Bildes), die eine andere Beziehung zum Betrachter aufbauen, der einmal vor imaginären Horizonten, den Farben des Unendlichen, einer geologischen Überlagerung von Linien steht, dann wieder vor imaginären Türpanelen, die Licht durchscheinen lassen, enthüllen und verbergen; und schliesslich die Beziehung zwischen diesen „Seiten“, die miteinander verbunden sind, manchmal absichtlich, um Diptychen und Triptychen zu formen, oder ideell in einem Hypertext, wenn sie auch in ihrem inneren Diskurs eigenständig bleiben.
Und der Diskurs, der daraus folgt, ist das Thema der Malerei über sich selbst, denn „abstrakte Malerei ist Malerei von Malerei. Als ob sie zu etwas gehören würde, das noch nicht da ist” . Diese Malerei schöpft auch aus dem visuellen Gedächtnis des Künstlers, er sieht – und malt – auch im Erinnern. In diese eleganten, strengen Strukturen hat Giancarlo Moro wohl auch die Echos und Suggestionen der japanischen Kunst und Architektur versetzt, mit jener Vorliebe für Transparenzen und geometrische Strukturen, die in den traditionellen japanischen Wohnstätten die Räume gliedern und das Licht filtern; in einem Präsentationstext von 2018 schrieb Moro, dass „das Intervall aus einem Weg hervorgeht, der Richtungswechsel oder Pausen vorgibt oder suggeriert und uns wie in einem japanischen Garten zur Betrachtung einlädt“.
Analog zu den Werken seiner Frau Ruth erkennt man auch in den Gemälden von Giancarlo Moro ein Pulsieren, das aus der Wiederholung von Zeitintervallen entsteht, aus dem Rhythmus, den verschiedene Linienabstände, die Dicke der Streifen, die Anordnung der Formen und Raster, das unterschiedliche Gewicht der Innenflächen des Bildes und schliesslich die Kombination in den „Übergangsbereichen“ zwischen hellen und dunklen, weichen und harten Tönen bilden. Diese vielfältigen Variablen tragen dazu bei, die Symmetrie zu durchbrechen und einen synkopierten Rhythmus zu erzeugen, eine „ausgewogene Unwucht“. Der Künstler weicht jedoch der Gefahr einer rein grafischen Anonymität aus und entzieht sich jeder dekorativen oder expressiven Versuchung. Das Endergebnis ist aber keine kalte Distanz, denn auch hier ermöglicht die Dauer der Handlung und des Blickes eine intime Beziehung zum Körper dieser Werke, in denen „das Potential der Malerei in der gemalten Oberfläche liegt und das Ergebnis im Gleichgewicht seiner inneren Dynamik“ . Wie Dario Bianchi feststellte, „scheint also ein Streben nach dem Absoluten das künstlerische Wirken von Moro zu prägen, der in der täglichen Auseinandersetzung mit Farben und Formen die Perfektion ersehnt; diese Perfektion ist jedoch nie gekünstelt, sondern macht seine ästhetischen und ich würde sagen auch seine ethischen Intentionen deutlich und lesbar“. Dieses ästhetische und ethische Projekt wird also mit Hilfe der Malerei umgesetzt, die auch eine unermüdliche existenzielle Praxis ist, um dem Zerfall einer Welt in der heutigen Zeit, die immer mehr von Trugbildern und Masken bevölkert ist, etwas entgegenzusetzen.
Betrachtet man wie im Vogelflug den Archipel des Schaffens von Ruth und Giancarlo Moro in seiner Gesamtheit, erreicht uns der Klang einer geheimen, stillen Musik, die verborgen bleibt, wenn man nicht lange genug hinschaut. In ihrem künstlerischen Projekt wird das Ur-Chaos geordnet, bewahrt dabei die Unvorhersehbarkeit des Zufalls und bestätigt (wie uns inzwischen auch die Quantenphysik bestätigt hat), dass die Realität aus einem dichten, komplexen Netz an Beziehungen und Interaktionen besteht. Ausserdem ist es ein ästhetisches Projekt, in dem das gegebene Material über sich hinausreicht und die Geste ein Destillat der geistigen „Leere“ ist, die von der langen Ausführungszeit der Werke impliziert wird.
Wenn künstlerische Tätigkeit bedeutet, „einen lebendigen Raum in die Welt zu setzen“, wie die amerikanische Philosophin Judith Butler sagte, dann kommt die anspruchsvolle Kunst von Ruth und Giancarlo Moro der Poesie nahe, die den „spirituellen Baum des Lebens“ bildet. Wie Blätter dieses Baumes, so „murmeln auch ihre Werke mit Resonanz und Resilienz und erheben den unmenschlichen Menschen aus dem ursprünglichen Raum“ .
1. Adachiara Zevi, Peripezie del dopoguerra nell’arte italiana,, Einaudi, 2006, S. 162
2. Peter Killer im Katalog Ruth Moro. Pagine romane, opere 2006-2010, Museo cantonale d’arte – Ala Est, 2011.
3. Marco Franciolli im Katalog Giancarlo Moro, opere 2006-2010, Museo cantonale d’arte, Ala Est, 2011.
4. Riccardo Venturi, Mark Rothko. Lo spazio e la sua disciplina, Electa, 2007, S. 77: „Wenn die Herausforderung darin besteht, eine nicht illusionistische Tiefe zu suggerieren, die von der ‚plastischen Realität‘ erzeugt wird, dann ermöglicht es die Natur der Malkunst, Tiefe zu erreichen, ohne das zweidimensionale Wesen der Bildebene selbst zu zerstören.“
5. T. Pericoli, Arte a parte, Adelphi, 2021, p.91.
6. A. Pitschen, Interview mit Francesco Pellegrinelli im Katalog: Adriano Pitschen. Forme presenti, Museo Villa Pia Porza, 2018, S. 77.
7. Jean Flaminien, L’essere che confida, Book editore, 2023, pag. 123.
2024
Betrachtungen für ein Porträt eines Künstlerpaares
Maria Will
Gleichgültigkeit gibt es nicht. Nicht einmal die gegenseitige der Orte und der darin wohnenden Existenzen. Nach und nach durchdringen sich ihre verschiedenen Naturen subtil gegenseit
Ruth und Giancarlo Moro leben seit über vierzig Jahren hinter einer kleinen rustikal-vornehmen Häusergruppe, geprägt von der Weisheit der Zeit und eingebettet in eine stille, milde leuchtende Landschaft. Von da aus reicht der Blick über die Hügel, die zum Monte Verità führen, über ein breites Stück des Sees mit dem Ufer von Gambarogno bis zu einem kurios angeschnittenen Winkel des beeindruckenden Monte Gridone, dessen Profil übrigens von vielen Standpunkten aus ein sicherer Orientierungspunkt ist.
Das Haus von Ruth und Giancarlo Moro liegt in Modino di Cavigliano, in der Nähe von Locarno. Es blickt auf einen kleinen terrassierten Blumen- und Nutzgarten auf zwei Ebenen und ist, geht man etwas weiter hinunter, über eine weitere Abstufung mit dem Atelier verbunden, in dem die Künstler ihre Arbeitsräume haben. Beide Gebäude, Wohnhaus und Atelier, wurden vom gleichen Architekturbüro entworfen (zu dessen Leitlinien – dies ist hier wirklich wichtig zu bemerken – die Bewahrung des Bestehenden und der Umgebung gehören): Das Wohnhaus ist ein Neubau, und etwa zwanzig Jahre später, 2004, entstand das zweite Gebäude durch Umbau eines alten Bauernhauses. Dass die Architekten, die beide Entwürfe gestalteten, enge Angehörige von Ruth und Giancarlo Moro sind (nämlich Paolo und Franco Moro, Brüder von Giancarlo; am Entwurf des Ateliers war Vanessa Moro beteiligt, die Tochter von Ruth und Giancarlo), kann nur den Willen und das Gewicht der geistigen und emotionalen Ideen betonen, die in die Gestaltung dieser Lebens- und Arbeitsstätte gelegt wurden, und sie zeigt sich – abschliessend – als ein wahrer Künstlerort. Beim Eintreten, ob als Freund oder Besucher, der aus unterschiedlichen Gründen am Werk von Ruth und Giancarlo Moro interessiert ist, nimmt man die Natürlichkeit wahr, die ihre Seinsart – die keine Trennung zwischen Künstler und Mensch kennt – mit der alltäglichen Szenerie verbindet, in der sie sich bewegen. Dazu gehört auch das Vergnügen eines gemeinsamen Essens, das mit Sorgfalt und präzisen, nie überflüssigen Gesten zubereitet und an der gastlichen Tafel serviert wird, häufig mit der Ernte aus dem Gemüsegarten. Geselligkeit wird in vollen Zügen genossen, begleitet von offenen Gesprächen über Ereignisse in Kunst und Politik ebenso wie über die verschiedensten gewöhnlichen und wesentlichen Bagatellen des Lebens. Und gern dehnt sich das Zusammensein aus in engagiert umkämpfte Karambolage-Spiele. In der Zwischenzeit kann der Blick auf dieses oder jenes neue Objekt fallen – ein Bild, eine kleine Skulptur (viele davon von Künstlerkollegen) oder eine überraschende Kreation der Natur (eine Schote, eine ungewöhnlich geformte Kapsel zum Beispiel) –, eingestreut in eine kleine Sammlung von Mirabilia, in die sich die Werke der Gastgeber (turnusweise, die älteren lassen Platz für jüngere Schöpfungen, so dass eine strenge selbstkritische Prüfung möglich ist) extrem diskret einfügen. Erlesenheit in der Schlichtheit, Fülle in der Essenzialität – diese Eigenschaften extrahiert man aus der Alltagsbeobachtung von Ruth und Giancarlo Moro ebenso wie aus der Betrachtung der von ihnen firmierten Werke. Wobei jeder natürlich seine eigenen firmiert. Obwohl man die wechselseitige Abhängigkeit schwerlich negieren könnte, die jeder von ihnen vom Partner hat. In der Tat bilden Ruth und Giancarlo Moro, junge Frischvermählte im Jahr 1968, Eltern von Vanessa und Igor und nun Grosseltern von fünf Enkelkindern, ein exemplarisches Künstlerpaar. Sie verkörpern ein höchst interessantes Phänomen in der Kunstgeschichte, das durchaus nicht rar ist und es verdient, von Fall zu Fall beleuchtet zu werden (nicht zuletzt in Bezug auf die Aufwertung des weiblichen Beitrags bei historischen Paaren wie zum Beispiel Auguste Rodin und Camille Claudel oder Jean Arp und Sophie Täuber-Arp).
Ruth und Giancarlo Moro vollziehen eine parallele und koinzidente Entwicklung in der Kunst, wenn man so sagen kann. Beide gelangen nicht auf einem kanonischen Weg zum Schaffen (sie kommen aus einem andersartigen Arbeitsgebiet), zeichnen sich aber durch eine ungewöhnliche Entschlossenheit aus, vor allem wenn man bedenkt, dass sie sich relativ spät an öffentliche Ausstellungen wagen (im Alter von rund fünfzig Jahren) im Vergleich zu einem „normalen“ Künstlerleben, das mit den Kunstschulen beginnt. Sie teilen eine deutliche Richtungsentscheidung für die Abstraktion oder besser Anikonizität als ideales System für den Ausdruck der unsagbaren Gleichgewichte der Vision. Giancarlo erreicht sie, indem er über die Avantgarden und Neo-Avantgarden in Europa und den USA meditiert; Ruth hingegen auf experimentelle, fast intuitive Weise anhand der Suggestionen, die sie aus der Bearbeitung von Pflanzen im Rahmen der Paper Art erhält; dabei überwindet sie mit beeindruckendem Gespür die rein handwerkliche Bedeutung des spezifischen Verfahrens. Die künstlerische Annäherung zwischen beiden wird auch deutlich, wenn (episodisch und fast zaghaft) die Vereinbarkeit ihrer jeweiligen Ausdrucksformen ausgelotet wird, wenn Giancarlo in seine Gemälde handgefertigte Papierblätter von Ruth einfügt und somit ihre Valenz als Materie und Zeichen hervorhebt. Das definitive Einverständnis allerdings zeigt sich in der Neugier mit der beide sich für die traditionelle orientalische und insbesondere japanische Kultur interessieren (bekannt ist der Reiz und Einfluss, den diese Kultur nach wie vor auf die moderne westliche Kunst ausübt!). Die Chance, diese kennen zu lernen, wurde von der Szene der Paper Art begünstigt, in der japanische Impulse entscheidend sind und in der Ruth sich aktiv bewegt. Demzufolge nehmen Rhythmus und Räumlichkeit in der Komposition der jeweiligen Werke beider Künstler noch absolutere Akzente an, eine noch strengere zeichnerische Klarheit, bis Oberfläche und Tiefe zusammenfallen.
Affinität bedeutet jedoch nicht Überlagerung. Denn die Recherchen von Ruth Moro und von Giancarlo Moro verlaufen auf getrennten Gleisen. Die Erkundung von Ruth, die sie zu einer vollen Abstraktion führt (fast zum Konkretismus), gründet in einer rationalen Ordnung, unterstützt von einer technischen Sachkunde, die kontinuierlich erweitert und erneuert wird (etwa in den zauberhaften Werken, die durch die Transparenz von Harz verstärkt werden, oder den jüngeren, bisher nicht ausgestellten Siebdrucken, die den unverzichtbaren Wert des Dekorativen auf einen höchsten Grad an Immaterialität führen). Giancarlo seinerseits führt von einer im problematischen Sinne philosophischen Position eine geradezu entgegengesetzte Suche durch; seine Bewegung wandelt sich von der Endgültigkeit des Abstrakten in die Ungreifbarkeit des Realen und Kontingenten (das legt auch der lange Arbeitsprozess an seinen Gemälden nahe, die aus einer ausgefeilten, heiklen Ausbreitung der Farbe hervorgehen und das gewünschte Ergebnis erst nach anschliessenden, zahllosen Verschleierungen erreichen). Die Reflexion über das Format, in dem die Vision erscheinen soll, über die entscheidende Rolle im kreativen Aufbau ist beiden Künstlern eigen: Zentralität, Horizontalität, Linearität sind die tragenden Achsen von zwei verschiedenen, komplementären Recherchen: die eine, Ruths, fest in ihrer verklärenden Sachlichkeit, die andere, Giancarlos, vibrierend von Stille und Unendlichkeit.
Derweil bewahrt das hohe Tympanon an der Nordwand der Atelierseite, in der Giancarlo arbeitet, die ständige visuelle Verbindung zum Wald und Himmel und lässt das bewegliche Licht ungehindert hinein. Gern beobachten die beiden Künstler das Licht mit seinem Gefährten, dem Schatten, in den flüchtigen Spielen, die es verschwenderisch auf den Fensterverdunkelungen in ihrem Zuhause hervorruft. Noten aus Poesie, aus Nostalgie für eine Schönheit und Harmonie, die in ihrer Zerbrechlichkeit als bedroht empfunden werden. Diese Mahnung findet sich sowohl in Ruths als auch in Giancarlo Moros Werken wie auf zwei Seiten einer Medaille: klarer und strahlender bei ihr, verschwommener und melancholischer bei ihm.
2011
Peter Killer
Eine Malerin sei Ruth Moro - das werden die meisten beim Betrachten nach wenigen Augenblicken konstatieren. Irrtum. Der Entstehungsweg dieser Werke ist so langwierig, kompliziert und vielphasig, dass man besser von einer Konzeptkünstlerin reden würde, die sich mit Prozessen beschäftigt, die ein bildhaftes Resultat finden.
Beim Künstler halte ich es wie beim Zirkusartisten. Ich will nicht wissen, wie lange er geübt hat, welche Schwierigkeiten mit welchem Aufwand überwunden worden sind, bis er uns etwas nie Gesehenes vorzeigt. Das, was schliesslich in der bildenden Kunst sichtbar wird - nur das zählt. Mir ist egal, ob einer in Lindenholz schnitzt oder in hartes, widerspenstiges Eichenholz, ob er Sandstein oder Granit bearbeitet, auf die Form und Aussage kommt es letztlich an.
Und was wird bei Ruth Moros Doppelbildern evident? Diese Künstlerin macht wunderbar stille, meditative Bilder. Damit ist das Wichtigste gesagt.
Gestaltete Stille. Das liegt quer in unserer lauten, extravertierten Zeit. Ich kenne keine statistischen Zahlen, die angeben würden, wer, wann und wo mit iPod-Stöpseln in den Ohren oder mit Kopfhörern unterwegs ist. Hunderttausende, Millionen Menschen in der westlichen Welt scheinen die Stille nicht mehr zu ertragen, sind auf eine permanente Beschallung angewiesen. Stille, Ruhe scheint eine Qualität zu sein, die mehr und mehr suspekt wird.
Andere, etwa Ruth Moro - so vital und aktiv sie ist - empfinden die Stille als wohltuend. Sie macht uns mit ihren stillen Bilder rare, kostbare Geschenke. Es gibt neben der Stille, die unser Gehirn über die Ohren wahrnimmt, auch eine visuelle Stille. Dass Bilder einen Klang haben, wissen nicht nur Synästhetiker. «Jetzt klingts», sagen Malerinnen und Maler, wenn die Farben gut gesetzt sind. Synästhetiker haben zu einem Sinnesreiz zwei oder mehrere Wahrnehmungen. Sie können beispielsweise Geräusche nicht nur hören, sondern auch Formen und Farben dazu sehen. Und Bilder werden für sie zu Melodien, zu Akkorden. Sie können laut oder leise tönen. Ich nehme an, dass Synästhetiker vor den Bildern Ruth Moros eine elegische, leise Musik hören, vielleicht von Flöten und Geigen gespielt.
Ich bekomme tagtäglich übers Internet aus aller Welt Einladungen zu Ausstellungen. Wenn ich Zeit habe, schaue ich sie an. Sie sind fast ausnahmslos sehr effektvoll gemacht. Die Webmasters wissen es genau, dass nur Lautes Beachtung findet, was überrascht, vielleicht sogar schockiert, ins Auge geht. Wer sich auf einer Kunstszene behaupten will, in der mehr passiert als wahrgenommen werden kann, wo das Angebot grösser ist als die Nachfrage, muss sich viel einfallen lassen. Ruth Moro dagegen bekennt sich zum Unspektakulären; darauf vertrauend, dass es immer noch Kunstfreundinnen und –freunde gibt, die auch auf Subtiles zu reagieren vermögen.
Ich kann auf ziemlich genau vierzig Jahre Beschäftigung mit Gegenwartskunst zurückblicken. Die Kunst hat sich in dieser Zeitspanne ungefähr gleich stark verändert wie die Gesellschaft. Ein Damals-heute-Vergeich ist in seiner Verallgemeinerung unzulässig, aber ich ziehe ihn doch. Es gab einmal Künstlerinnen und Künstler, die in aller Stille ein Werk schufen (oder vielleicht besser: es wachsen liessen), eigensinnig, also nach eigenem Sinn, aufs Risiko hin, zu irren, einen einsamen Weg einschlugen. Solche Künstlerinnen und Künstler - sie sind heute selten geworden - haben mein Kunstverständnis geprägt. Falls es überhaupt ein objektiv-richtiges Kunstverständnis gibt, weiss ich nicht, ob meines das richtige ist, aber es stimmt für mich. Und so teile ich Ludwig Hohls Überzeugung: «Es gibt in der Kunst kein Inneres oder Äusseres. Wo Kunst ist, ist lauter Inneres aussen.»
Und im Innern ist es mehr oder weniger still. Wenn sich das Innere als Kunstwerk nach aussen kehrt, für andere wahrnehmbar wird, kann die Stille Teil von ihm sein. So erlebe ich es vor den Bildern von Ruth Moro. Die meisten ihrer Pagine Romane sind Doppelbilder, ergeben von weitem betrachtet einen Zweiklang. Von nah gesehen ist der «einzelne» Klang aber reich und variiert orchestriert. Kammermusikstücke in zwei Sätzen? Zweiteilige Nocturnes? Abendlich geprägte kleine Sinfonien?
Die meisten der Doppelbilder bestehen aus zwei mittelformatigen Quadraten. Sie setzen sich nicht nur farblich voneinander ab, sondern auch durch den Unterschied der gitter- oder rasterartigen Strukturen. Grossmaschige Texturen treten auf diesen Diptychen in Dialog mit feinmaschigen, die sich soweit auflösen können, dass sie an die lyrischen Abstraktionen Mark Tobeys erinnern.
Mit Vorliebe verwendet die Künstlerin ein 40×40 cm-Format. Die verhältnismässig kleine Dimension wird durch das All-over-Prinzip relativiert. Wie viele abstrakte Expressionisten und die Colourfield-painters gestaltetet sie flächendeckend, und zwar so, dass das Auge das Bild über den Rand hinaus ausdehnt, wachsen lässt.
Ruth Moro setzt Struktur-, Textur-, Farb- und Helldunkelkontraste in eine kontrapunktische Spannung. Im chromatischen Spektrum sind ihr die Herbstfarben lieber als die Frühlings- und Sommerfarben. Es sind die stillen Jahres- und Tageszeiten, die sich in ihren Bildern spiegeln. Auffällig häufig verwendet Ruth Moro Grün. Robert Walser schrieb 1911: «Die Welt im Frühling ist ein Brand in Grün. Grün ist eine Raserei von Farbe. Hochauf bäumt es sich, lang streckt es sich aus. Man ist kein Mensch mehr. Man weiss nicht mehr, was und wer man ist. Es tobt, es zürnt, es quillt, es lodert. Grün ist eine fürchterlich ernste, heilige Farbe. Eine grauenerregende Farbe, eine mahnende, fragende Farbe, eine göttliche Farbe.»
Walsers Grün könnte Gelbgrün, Schwefelgelb, Türkis oder Wasserblau oder Apfelgrün heissen. Ruth Moro hält es mit Patinagrün, Smaragdgrün, Moosgrün, Olivgrün, Farngrün, Opalgrün. Ihre gedämpften Grün sind fern von Raserei, bäumen sich nicht auf, sie zürnen, lodern, mahnen und fragen nicht. Ihre Farben haben das Selbstverständliche des Wirkens der Natur.
Ich habe zwar eingangs gesagt, dass mich der handwerkliche Prozess, der zu einem Bild führt, nicht interessiert. Ein kurzer Kommentar zum Werden dieser Werke ist aber unumgänglich, denn er betrifft Offensichtliches, erklärt einen Teil ihres Erscheinungsbildes.
Ruth Moros hier gezeigten Werke sind Mikroreliefs aus den papierenen, blattartigen Früchten des Chinesischen Parasolbaumes Firmiana simplex. Sie folgern sich konsequent aus einer Entwicklung, die vor zwanzig Jahren mit der Herstellung von Papier aus Pflanzenmaterial be- gonnen hat. Längst genügt ihr das Schöpfen von Papier nicht mehr. Zu schön, zu wunderbar ist das Eingesammelte, als dass sie es zu Papierbrei verwandeln will. Vor allem vier Pflanzen bzw. Bäume sind es, die sie nach wie vor beschäftigen: Schachtelhalm, Ahorn (von dem sie die Monopteros-Samen verwendet), Linde und eben die Firmiana simplex.
Auf dem einen Teil (meist dem linken) ihrer Doppelbilder (seltener auf beiden) sind die blatt- artigen Firmiana simplex-Früchte leicht erkennbar. Sie hat sie in sorgsamer Überlagerung zu Pflanzenpapieren gefügt, die in einem weiteren Schaffensschritt auf die Leinwand aufgebracht werden. Auf der andern Hälfte des Diptychons ist die Struktur meist feinteiliger rhythmisiert; aber auch hier ergibt sich die Textur durch das Parasolbaummaterial und das gleiche Arbeitsprinzip.
Im Garten ihres Ateliers in Cavigliano bei Locarno kocht sie die Pflanzen in Natronlauge, spült sie, bleicht sie, spült wieder. Dann färbt sie die blattartigen Früchte, setzt sie zu hauchdünnen Kompositionen zusammen, die gepresst, dann auf den Bildträger übertragen werden und schliesslich eine vielschichtige farbige Haut bekommen – nach Goethes Devise «Blumen reicht die Natur, es windet die Kunst sie zum Kranze».
Den Chinesischen Parasolbaum hat Ruth Moro 1995 kennengelernt, als sie nach Japan fuhr, um den Preis der «Imadate Exhibition of Paper Art ’95» in Empfang zu nehmen. «Ich entdeckte in Kyoto per Zufall diesen Baum. Ich war durch dessen papierenen, blattartigen Früchte sofort angezogen und habe gleich eine Menge davon geerntet, um mit diesen Früchten zu Hause zu experimentieren. Da mich diese neue Materie jedoch nicht los liess, musste ich sie anderswo suchen. In den letzten fünf Jahren konnte ich dann die blattartigen Früchte der Firmiana simplex im Botanischen Garten der Universität La Sapienza in Rom ernten. Dort fand ich eine engagierte Unterstützung für meine Arbeit.»
Pagine Romane heissen die Bilder, weil sie ohne die papierenen, blattartigen Früchte der Firmiana simplex aus Rom nicht hätten entstehen können.
Ruth Moro überschreitet Grenzen. Viele ihrer Bilder haben etwas mit der bald hundertjährigen Tradition der monochromen Malerei zu tun. Wo sie zerfallendes, kleinteiliges Blattmaterial verwendet, wirken die Tafeln wie ungegenständliche, abstrakt-expressive Kunst. Wie könnte man aber Kunstwerke als ungegenständlich bezeichnen, wenn die papierenen, blattartigen Früchte der Firmiana simplex, also etwas Objekthaftes, eine zentrale Rolle spielen?
Näher als der monochromen Malerei steht Ruth Moro meiner Ansicht nach Künstlern wie Wolfgang Laib, der Materialien wie Blütenstaub, Milch und Reis zu Kunstwerken erklärt. Zu Kunstwerken, die von einer tiefen Liebe zur Natur getragen sind.
2011
Marco Franciolli, Direktor-Kurator Museo Cantonale d’Arte Lugano
Die Besessenheit der Nachahmung von Formen der Natur hat in der westlichen Kunst unzählige Meisterwerke hervorgebracht: Stillleben, Vanitas, Landschaften, Laubwerk, Bäume, Blumen, Blätter – die Künstler haben nie aufgehört, in der Pflanzengestalt eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration zu finden.
Von der symbolhaften Bearbeitung bis zum äusserst obsessiven Realismus, von der radikalsten Abstraktion bis zur poetischen Beschwörung, die Sprachen der Kunst scheinen jede Möglichkeit ausgeschöpft zu haben, die fundamentale Verbindung des Menschen mit der Natur auszudrücken. Und doch kann die Malerei noch überraschend neue Weisen hervorbringen, um diese Empfindungen auszudrücken, wie die Bilder von Ruth Moro beweisen.
Die Künstlerin betrachtet die Natur nicht, um sie nachzuahmen, sondern sie eignet sie sich buchstäblich an, indem sie Blätter oder Früchte in Rohstoff für ihre Bilder verwandelt. Mit einem langwierigen und komplexenVerfahren entfernt Ruth Moro die weichen Teile der Blätter, um die innere Blattäderung zu enthüllen, Seele oder Gerippe, welche im malerischen Werk semantische und strukturelle Werte bekommen. Zusammengefügt bilden die Pflanzenstrukturen ein Blatt, das die Grundlage für ihre Werke ergibt.
In einer früheren Phase ihrer künstlerischen Laufbahn wurden die Blätter in einem Plexiglas- Kästchen aufgehängt – eine Präsentationsart, welche die Struktur durch die Transparenz bewusst aufwertete. Der Effekt dieser durchsichtigen Blätter, die an unberührbare Insektenflügel erinnerten, war entfremdend. Die Pflanzenstruktur, ähnlich wie es bei der Mikrofotografie geschieht, war gleichzeitig erkennbar und geheimnisvoll. In den künstlerischen Arbeiten von Ruth Moro zeigt sich effektiv eine Art Makrovision der Blattstrukturen, welche ihre geheime Struktur enthüllen. Jede Pflanze hat ihren einzigartigen und unverwechselbaren Charakter, den die Künstlerin zu lesen und zur Geltung zu bringen versteht.
In der Folge begann Ruth Moro ihre Papierblätter auf Leinwand, und auf Rahmen oder Tafeln - den Bildträgern der westlichen Maltradition - zu montieren und dann auf chromatischer Ebene die Pflanzenstruktur der Blätter manchmal mit zarten und delikaten Farben aufzulösen oder sie mit kräftigeren und dichten Farben zu betonen. Unwillkürlich denkt man an die orientalische visuelle Kultur – nicht aufgrund von orientalischen Stilelementen, aber wegen der spürbaren kontemplativen Dimension der Naturbetrachtung, der speziellenVerwendung des Papiers und dem Gebrauch des Pflanzenelements.
Das Lemma Folium bezeichnet das Blatt, das Blütenblatt, das Blatt Papier, und es scheint die gleichen Phasen des Vorgehens von Ruth Moro abzubilden: vom Blatt zum Blatt Papier zum Bild. Die in diesem, anlässlich der Ausstellung im Museo Cantonale d’Arte veröffentlichten Katalog abgebildete Gruppe von Werken trägt den Titel Pagine romane. Der Werkzyklus wurde seit 2006 auf der Basis der Fruchtblätter der Firmiana simplex realisiert und setzt sich zusammen aus Diptychonen – eine Formwahl, die dem Werk ein weiteres Sinnelement hinzufügt. Nach dem Verarbeiten des pflanzlichen Materials, einer langwierigen Prozedur, mit der sie den Rohstoff für ihre Bilder erhält, beschäftigt sich Ruth Moro auf rein malerischer Ebene mit dem Thema des Doppels und des Paares. Die Gegenüberstellung der Strukturen und der Farben, welche die ganze Fläche der einzelnen Bildelemente ausfüllen, erzeugt Kontrapunkte und Harmonien und lässt die Suche nach einem idealen Dialog-Punkt erahnen, der die Zusammengehörigkeit der beiden Elemente aufzeigt, ihre Übereinstimmung oder die Spannung zwischen ihnen.
Die Strenge und die Tiefe der künstlerischen Suche von Ruth Moro erlauben es, jegliche Tendenz zur dekorativen Gefälligkeit auszuschliessen. Die sinnliche Schönheit der Gemälde bringt durch die Farbabstimmungen und die Zusammenstellung der Zeichenstrukturen ein raffiniertes Gleichgewicht zum Ausdruck. Der Beobachter wird aufgefordert, in eine besinnliche Dimension einzudringen, in der die Erfahrung der Kunst und der Natur sich endlich vereinigen.
Uebersetzung Margrit Hagenow-Caprez
1999
Maria Will
Eher Spitzen ähnlich und nicht dem, was man gemeinhin unter einem Blatt Papier versteht, bestehen die Werke von Ruth Moro aus einer ihnen eigenen Unfassbarkeit. Unfassbarkeit, die manchmal zarter Schimmer ist, andere Male hingegen harte Körperlichkeit, aber so fremdartig gegenüber dem Bekannten, dass sie schon rätselhaft erscheint.
Es ist in der Tat eigenartig, wie eine solche Arbeit, die so eng und so ausschliesslich an das Material, aus dem es besteht, gebunden ist, dann zu Ergebnissen führt, die so weit davon entfernt sind, dass es dieses geradezu annulliert.
Dennoch, obwohl beim Anblick der Kompositionen von Ruth Moro, der spontane und legitime Verweis auf Gewebe, Zeichnungen, Gemälde, auch auf Glasbilder deutet (und es besteht kein Zweifel, dass sich weitere Möglichkeiten eröffnen können), ihr Bezug zur Herkunft, zum pflanzlichen Ausgangsmaterial ist unbestreitbar und wird dadurch paradoxerweise nur noch klarer: die kleinste ausdrucksfähige Einheit - das Zeichen - welches die einzelnen Werke charakterisiert, ist nämlich durch nicht anderes vorgegeben als durch die Struktur des pflanzlichen Elements selbst, das die Künstlerin jeweils als “Werkzeug” wählt (die Ahornfruchtflügel, die Früchte der “Firmiana simplex” eher als die Stiele des Schachtelhalms oder die Blüten der “Hydrangea quercifolia”, die zusammen mit den Linden-Hochblättern die bevorzugten Pflanzenfasern der Künstlerin sind).
Und genau innerhalb des prekären Gleichgewichts des äusserst feinen Spiels und innerhalb dieser besonderen Widersprüchlichkeit arbeitet Ruth Moro: die Fäden des Spiels in Händen zu halten, bedeutet dann, mit dem Ziel einer persönlcihen Recherche, einer Materie den Weg zu weisen, ihre eigenen Kräfte und Wesensarten ins Spiel zu bringen; die Materie wird zum Gesprächspartner.
Man befindet sich hier offensichtlich im Bereich der Technik, aber ebenso offensichtlich geht es auch darüber hinaus. Die Kunst der Papierherstellung, so wie Ruth Moro sie interpretiert, wobei sie in ihr ihre eigene Kreativität zum Ausdruck bringt, offenbart sich in einem sehr intimen und unerklärlichen Zusammenspiel eines ausführenden Moments, und eines schöpferischen, genauer gesagt, erfinderischen Moments. Ganz und gar im Einklang mit jener Kunstauffassung, die sich innerhalb der westlichen Zivilisation immer mehr durchsetzt als Synthese aller Fähigkeiten eines Individuums, im Gegensatz zum ausschliesslichen Vorrang der rein intellektuellen Fähigkeit, entspricht auch die Arbeit von Ruth Moro grundsätzlich dem Bedürfnis, die Harmonie zwischen Individuum und Universum, zwischen dem Sich und dem Anderen zu offenbaren und zu verbreiten. Die Stimme der Künstlerin hört somit auf, Einzelstimme zu sein, um zu einer Stimme zu werden, die die Vielfalt aufnimmt.
Die Stimme, oder besser der Gesang, der von den Arbeiten von Ruth Moro aufsteigt, ist ein Gesang, der sehr anmutig ist und sich in einer natürlichen, unmittelbaren Poesie ausbreitet, darauf ausgerichtet, flüchtige Eindrücke wie im Flug aufzunehmen; zart durchscheinend wie die Papiere, in deren Gewebe sich diese Poesie wie durch Zauberei verfängt.
Die Pole, zwischen denen das Werk von Ruth Moro entsteht und sich entfaltet, haben ihre extremste Formulierung im Kontrast zwischen der nicht sichtbar harten und sorgfältigen Arbeit, die ein solches Werk mit sich bringt, und dem sich behaupten im Licht der Struktur des Werkes selbst; in der Gegenüberstellung zwischen dem Chaos des ursprünglichen Materials und der harmonischen Ordnung, die die Künstlerin durch ihre Intervention einbringt.
In der Tat, es liegt schlussendlich an dem Licht, dem die Künstlerin ihre Kompositionen übergibt, dass es unmöglich ist, ihnen das Siegel einer dauerhaften Definition aufzudrücken: wie in die Luft gezeichnet, durch die transparente Wirkung, oder hervorgehoben durch ihre Texture mit einem studierten Hintergrund, verändern sich diese Kompositionen - die zu Lichtkompositionen werden - je nach Lichteinfall, wobei sie sich in das unaufhaltsame Fliessen der Zeit einreihen, die alles verwandelt.
Uebersetzung Wolfgang Simon
1999
Claudio Guarda
Seit seiner Erfindung stellte das Papier das geschmeidigste und leichteste Medium für den Menschen dar, seine Zeichen, wenn er solches wollte, zum Ausdruck zu bringen. Papier herstellen bedeutet eigentlich nichts anderes als eine Unterlage zu schaffen, die dazu bestimmt ist, Zeichen aufzunehmen, eine Schrift.
Wenn nun, wie durch einen merkwürdigen Zufall, diese Zeichen, statt auf dem Papier, aus dessen Innerstem hervorkämen, nicht die Zeichen, die der Mensch mit seiner eigenen Hand hinterlässt, sondern jene, die unter der Hülle des pflanzlichen Materials verborgen sind - wobei man die Schönheit von Blättern und Blüten hinter sich lässt, um zu den Gewebefasern vorzustossen, dann würde sich vor unseren Augen wahrscheinlich etwas Erstaunliches ereignen: und man würde die Grundformen der pflanzlichen Struktur wahrnehmen, harmonische Rhytmen, überraschende Uebereinstimmungen der Farbtöne, das schlichte franziskanische Gedicht von “Coloriti fiori et herba”. Und eben darin zeigt sich die höchste, aber auch gleichzeitig einfachste und natürlichste andere Art der Pflanzenpapierherstellung.
Jene von Ruth Moro entspricht einem stillen Ritual, das sich parallel zum Lauf der Sonne abspielt, in der Spanne der Jahreszeiten: es beginnt mit dem Sammeln des Grundstoffes, von Blättern, Blüten und Samen, die uns die überfliessende Natur grosszügigerweise schenkt oder zu unterschiedlichen Zeiten und Formen auf dem Boden verstreut. Erst später in der Zurückgezogenheit ihres Ateliers, eingetaucht in die Natur, wird dieses Material geduldig aussortiert, bearbeitet, gekocht, gewaschen, gereinigt, solange bis die innerste tragende Struktur zum Vorschein kommt, das heisst, diese feinen Verästelungen von Gefässen, die von einem zentralen Nerv ausgehen. Das Vorgehen erfordert äusserste Sorgfalt und Feingefühl, es folgt dem langsamen Dahinziehen der Wintertage: aber gerade in dieser langen Zeitspanne entsteht die Begegnung, dieses lange Abwarten wird Behorchung und Dialog - so dass die Grundstrukturen ihren Weg erahnen lassen.
Das, was diese feinsten Papiere von Ruth Moro auszeichnet, ist, dass die Künstlerin in dem Moment, in dem sie sie gestaltet, sich dem Material nicht aufdrängt, sondern es begleitet, ihm folgt, sich von seinen Formen und inneren Stimmen leiten lässt; in einem gewissen Sinn schafft sie eine Art kontrollierte Leere in sich, um sich von dem durchdringen zu lassen, was ihr die Natur selbst eingibt. Hinter ihrem Schaffen steht also nicht nur ein Suchen nach ästhetischen Ergebnissen, sondern eine mentale und spirituelle Einstellung, eine Bereitschaft zur Begegnung, eine andere Art, etwas zu betrachten und sich auf die Natur einzulassen, mit ihr zu leben, Schritt um Schritt mit ihren Rhytmen.
Es entstehen Ergebnisse von grosser Faszination und Natürlichkeit: manchmal sind sie aussagekräftiger und strukturierter, wenn die Komposition den strengen Rhytmus der Nervatur bevorzugt und betont; andere Male leicht malerischer und atmosphärischer, wenn im freien Spiel von Uebereinanderlagerungen dann auch unvorhergesehenerweise gebogene Linien und synkopische Rhytmen zum Vorschein kommen, Schwankungen in Tiefenschärfe und Farbabstufung im Wechsel von Weiss, Grau und Schwarz, die die Oberfläche des Papiers zieren.
Und während unser Auge wie verzaubert ist von dieser geheimnisvollen Welt zarter Durchsichtigkeiten, fast endlosen Schleiern gleich, die über zarte Spinnengewebe gespannt sind, kann sich unser Verstand nur mit den Fragen nach der überraschenden Verwandschaft und den tiefen Uebereinstimmungen beschäftigen, die plötzlich voneinander weit entfernte Kunstrichtungen scheinbar zusammenrücken lassen: von jener, die man im 20. Jahrhundert in Europa zur Blüte brachte (insbesondere Paul Klee), bis hin zur primitiven oder stammeszugehörigen Ausdruckskraft gewisser afrikanischer oder ozeanischer Völker, von den Tätowierungen im Amazonasgebiet, bis hin zu den Stoff- und Wanddekorationen, von den Zeichnungen auf Baumrinden der Mbuti, in Afrika, bis hin zu den farbenfrohen Stickereien (die Molas) der Kuna in Panama. Man wäre fast verführt zu sagen, dass Ruth Moro mit dieser entschleierten Stimme der Natur den Archetypus enthüllt, der den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen so verschiedenartigen und von einander weit entfernten künstlerischen Ausdrucksformen darstellt.
Diese kleinen Papiere - aber die Harmonie entstammt eben dem angeborenen Verhältnis zwischen dem natürlichen Grundstoff und dem ihm entsprechenden Gestaltungszeitraum - sind somit mit einem Zauber behaftet, der die Zeiten überschreitet und den Raum verkürzt: einmal herausgearbeitet und entblösst, gibt die pflanzliche Seele der Natur nicht nur ihre äusseren Strukturen preis, sondern auch die Poesie ihrer inneren Ordnung; nicht nur die Funktionalität ihrer Nervatur, sondern auch die geheime Musik ihrer Rhythmen und Farben; und in der Vollkommenheit eines Blütenblattes, das das Entstehen eines Papiers hervorbringt, indem es ihm innewohnende Rhytmen und Entwicklungsabläufe eingibt, erneuert und verbreitet sich die ganze “Harmonie der Gestirne”, sobald sie vom Licht getroffen und durchflutet sind. Mikrokosmos und Makrokosmos folgen einander und treffen sich.
Was bei Ruth Moro’s Kunst fasziniert, ist, dass sie aus einem Nichts entspringt, jedoch mit Geduld, Hartnäckigkeit und langem Abwarten einhergeht. Alles lebt in den zarten filigranen Linien eines Papiers, das uns den Blick auf eine Natur eröffnet, die uns zwar vertraut, aber auch ebenso fremd ist, damit jedoch deren verborgene Seele zum Vorschein bringt: vom kraftvollen Gewirr der Fasern bis zu den feinen Abstufungen der Nervatur, von der dichten Beschaffenheit des “ursprünglichen” Elements bis zur Ordnung einer natürlichen Geometrie. Bis zur luftigen Architektur ihrer letzten Kompositionen, fast Glasfenstern gleich - eingehaucht von der Struktur des Pflanzenmaterials selbst - durch die eine antike Masseinheit eindringt, das Licht eines fremden Horizonts.
Es sind zweifellos originelle Ergebnisse, worin das Echo neuer Stimmen erschallt, das Bedürfnis mit der Natur in Einklang zu stehen, wozu vor allem unsere Epoche dringend aufruft.
Uebersetzung Wolfgang Simon
1999
Gedankensplitter, gesammelt von Giancarlo Moro
Das Ritual beginnt mit dem Sommer, mit der Suche nach dem Pflanzenmaterial und endet oft erst im vorgerückten Winter. Jedes Blatt oder Frucht offenbart zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Eigenschaften. Welches ist nun der beste Augenblick, um Ginkgo zu sammeln? Und wie ist es beim Ahorn oder dem Pfeifengras? Und der Schachtelhalm, soll er weiss oder braun sein?
Und wie ist es beim Ahorn oder dem Pfeifengras? Und der Schachtelhalm, soll er weiss oder braun sein? Man probiert es und probiert es immer wieder, Tag für Tag, und jeder Tag führt zu neuen aufregenden Erkenntnissen - oder zu neuen Enttäuschungen. Die Gefühlsregungen sind stark und der Zauber dieser Alchimie, das Pflanzliche in ein Papierblatt zu verwandeln, verwirrt die Sinne.
Mit den Jahren habe ich mehr als achtzig Pflanzen untersucht. Blätter, Rinden, Stiele oder Früchte, aber es sind vor allem vier oder fünf von ihnen, mit denen ich täglich arbeite, bei welchen ich immer wieder neue Reize und Emotionen suche.
In der Natur verwandelt sich alles. Es ist ein andauernder Prozess. Was verbirgt sich hinter den botanischen Erscheinungsformen einer Pflanze? Durch Umwandeln der Materie ist alles zu entdecken.
Das Kochen erfolgt in ätzender Natronlauge. Der Geruch ist beissend und penetrant, der Prozess gewaltsam. Am Ende bleibt nur die Struktur, das Gerippe der Pflanze mit ihrer Zellulose. Alles andere wurde wie bei einem Verwesungsvorgang beseitigt.
Aber wann soll man diesen Vorgang stoppen? Wann treten die ursprünglichen Eigenschaften der Pflanze zu Tage? Wann zeigt die Zellulose, welche das einzig vorhandene Bindemittel ist, ihre höchste Wirkung? Es ist wirklich schwierig, diesen Zeitpunkt zu bestimmen und deshalb muss man es immer und immer wieder probieren.
Dieses ständige Probieren und Wiederprobieren geht mit der Suche nach etwas Verborgenem, etwas Geheimem einher, was sich dann als Seele der Pflanze offenbart.
Dann stundenlanges Spülen. Die letzten zurückgebliebenen Unreinheiten werden entfernt. Dann bleicht man und spült wieder, färbt die Pulpe und spült wieder.
Erst jetzt beginnt das Gestalten: durch direktes Schöpfen in der Pulpe mit einer hölzernen Schöpfform, für Papier gleichartiger Strukturen. Dies ist die klassische Methode. Oder man arbeitet mit einer hölzernen Schöpfform, die auf dem Wasser schwimmt; die Pulpe wird auf dem Sieb verteilt und mit den Händen eingreifend erstellt man eine Komposition, wobei man mit den Zeichen spielt, die jede Pflanze bietet. Das Wasser, die Pflanzen und ich, wir wirken gemeinsam. Wir treten in einen Dialog ein, auf der Suche nach etwas Neuem, noch Verborgenem, das noch zu entdecken ist. Oder schliesslich, der Rahmen wird nur als Gestaltungsunterlage gebraucht, wobei man die charakteristischen Eigenheiten, die Geometrie ausnutzt, die in jeder Pflanze vorhanden, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.
Die Zusammenstellung ist oft komplex, bedarf Zeit und Hartnäckigkeit, aber die Blätter, die dann entstehen, sind eber nicht nur einfach Papier, sondern vielmehr Papier und dessen Zeichen, jene der Pflanzenseele, und sie werden zu Papierblättern durch ihre eigenständige Kraft, ihre originelle Ausdrucksweise.
Und das Ritual geht mit dem Trocknen unter der Presse weiter, zwischen Tüchern und Holzpappen, die bis zur vollständigen Trocknung immer wieder erneuert werden, solange bis man ihre zerbrechliche Robustheit zwischen den Fingern spürt und mit den eigenen Augen wahrnimmt, was sie zu erzählen haben.
Uebersetzung Wolfgang Simon