2011

Wunderbar Stille, meditative Bilder

Peter Killer

Eine Malerin sei Ruth Moro - das werden die meisten beim Betrachten nach wenigen Augenblicken konstatieren. Irrtum. Der Entstehungsweg dieser Werke ist so langwierig, kompliziert und vielphasig, dass man besser von einer Konzeptkünstlerin reden würde, die sich mit Prozessen beschäftigt, die ein bildhaftes Resultat finden.

Beim Künstler halte ich es wie beim Zirkusartisten. Ich will nicht wissen, wie lange er geübt hat, welche Schwierigkeiten mit welchem Aufwand überwunden worden sind, bis er uns etwas nie Gesehenes vorzeigt. Das, was schliesslich in der bildenden Kunst sichtbar wird - nur das zählt. Mir ist egal, ob einer in Lindenholz schnitzt oder in hartes, widerspenstiges Eichenholz, ob er Sandstein oder Granit bearbeitet, auf die Form und Aussage kommt es letztlich an.

Und was wird bei Ruth Moros Doppelbildern evident? Diese Künstlerin macht wunderbar stille, meditative Bilder. Damit ist das Wichtigste gesagt.

Gestaltete Stille. Das liegt quer in unserer lauten, extravertierten Zeit. Ich kenne keine statistischen Zahlen, die angeben würden, wer, wann und wo mit iPod-Stöpseln in den Ohren oder mit Kopfhörern unterwegs ist. Hunderttausende, Millionen Menschen in der westlichen Welt scheinen die Stille nicht mehr zu ertragen, sind auf eine permanente Beschallung angewiesen. Stille, Ruhe scheint eine Qualität zu sein, die mehr und mehr suspekt wird.

Andere, etwa Ruth Moro - so vital und aktiv sie ist - empfinden die Stille als wohltuend. Sie macht uns mit ihren stillen Bilder rare, kostbare Geschenke. Es gibt neben der Stille, die unser Gehirn über die Ohren wahrnimmt, auch eine visuelle Stille. Dass Bilder einen Klang haben, wissen nicht nur Synästhetiker. «Jetzt klingts», sagen Malerinnen und Maler, wenn die Farben gut gesetzt sind. Synästhetiker haben zu einem Sinnesreiz zwei oder mehrere Wahrnehmungen. Sie können beispielsweise Geräusche nicht nur hören, sondern auch Formen und Farben dazu sehen. Und Bilder werden für sie zu Melodien, zu Akkorden. Sie können laut oder leise tönen. Ich nehme an, dass Synästhetiker vor den Bildern Ruth Moros eine elegische, leise Musik hören, vielleicht von Flöten und Geigen gespielt.

Ich bekomme tagtäglich übers Internet aus aller Welt Einladungen zu Ausstellungen. Wenn ich Zeit habe, schaue ich sie an. Sie sind fast ausnahmslos sehr effektvoll gemacht. Die Webmasters wissen es genau, dass nur Lautes Beachtung findet, was überrascht, vielleicht sogar schockiert, ins Auge geht. Wer sich auf einer Kunstszene behaupten will, in der mehr passiert als wahrgenommen werden kann, wo das Angebot grösser ist als die Nachfrage, muss sich viel einfallen lassen. Ruth Moro dagegen bekennt sich zum Unspektakulären; darauf vertrauend, dass es immer noch Kunstfreundinnen und –freunde gibt, die auch auf Subtiles zu reagieren vermögen.

Ich kann auf ziemlich genau vierzig Jahre Beschäftigung mit Gegenwartskunst zurückblicken. Die Kunst hat sich in dieser Zeitspanne ungefähr gleich stark verändert wie die Gesellschaft. Ein Damals-heute-Vergeich ist in seiner Verallgemeinerung unzulässig, aber ich ziehe ihn doch. Es gab einmal Künstlerinnen und Künstler, die in aller Stille ein Werk schufen (oder vielleicht besser: es wachsen liessen), eigensinnig, also nach eigenem Sinn, aufs Risiko hin, zu irren, einen einsamen Weg einschlugen. Solche Künstlerinnen und Künstler - sie sind heute selten geworden - haben mein Kunstverständnis geprägt. Falls es überhaupt ein objektiv-richtiges Kunstverständnis gibt, weiss ich nicht, ob meines das richtige ist, aber es stimmt für mich. Und so teile ich Ludwig Hohls Überzeugung: «Es gibt in der Kunst kein Inneres oder Äusseres. Wo Kunst ist, ist lauter Inneres aussen.»

Und im Innern ist es mehr oder weniger still. Wenn sich das Innere als Kunstwerk nach aussen kehrt, für andere wahrnehmbar wird, kann die Stille Teil von ihm sein. So erlebe ich es vor den Bildern von Ruth Moro. Die meisten ihrer Pagine Romane sind Doppelbilder, ergeben von weitem betrachtet einen Zweiklang. Von nah gesehen ist der «einzelne» Klang aber reich und variiert orchestriert. Kammermusikstücke in zwei Sätzen? Zweiteilige Nocturnes? Abendlich geprägte kleine Sinfonien?

Die meisten der Doppelbilder bestehen aus zwei mittelformatigen Quadraten. Sie setzen sich nicht nur farblich voneinander ab, sondern auch durch den Unterschied der gitter- oder rasterartigen Strukturen. Grossmaschige Texturen treten auf diesen Diptychen in Dialog mit feinmaschigen, die sich soweit auflösen können, dass sie an die lyrischen Abstraktionen Mark Tobeys erinnern.

Mit Vorliebe verwendet die Künstlerin ein 40×40 cm-Format. Die verhältnismässig kleine Dimension wird durch das All-over-Prinzip relativiert. Wie viele abstrakte Expressionisten und die Colourfield-painters gestaltetet sie flächendeckend, und zwar so, dass das Auge das Bild über den Rand hinaus ausdehnt, wachsen lässt.

Ruth Moro setzt Struktur-, Textur-, Farb- und Helldunkelkontraste in eine kontrapunktische Spannung. Im chromatischen Spektrum sind ihr die Herbstfarben lieber als die Frühlings- und Sommerfarben. Es sind die stillen Jahres- und Tageszeiten, die sich in ihren Bildern spiegeln. Auffällig häufig verwendet Ruth Moro Grün. Robert Walser schrieb 1911: «Die Welt im Frühling ist ein Brand in Grün. Grün ist eine Raserei von Farbe. Hochauf bäumt es sich, lang streckt es sich aus. Man ist kein Mensch mehr. Man weiss nicht mehr, was und wer man ist. Es tobt, es zürnt, es quillt, es lodert. Grün ist eine fürchterlich ernste, heilige Farbe. Eine grauenerregende Farbe, eine mahnende, fragende Farbe, eine göttliche Farbe.»

Walsers Grün könnte Gelbgrün, Schwefelgelb, Türkis oder Wasserblau oder Apfelgrün heissen. Ruth Moro hält es mit Patinagrün, Smaragdgrün, Moosgrün, Olivgrün, Farngrün, Opalgrün. Ihre gedämpften Grün sind fern von Raserei, bäumen sich nicht auf, sie zürnen, lodern, mahnen und fragen nicht. Ihre Farben haben das Selbstverständliche des Wirkens der Natur.

Ich habe zwar eingangs gesagt, dass mich der handwerkliche Prozess, der zu einem Bild führt, nicht interessiert. Ein kurzer Kommentar zum Werden dieser Werke ist aber unumgänglich, denn er betrifft Offensichtliches, erklärt einen Teil ihres Erscheinungsbildes.

Ruth Moros hier gezeigten Werke sind Mikroreliefs aus den papierenen, blattartigen Früchten des Chinesischen Parasolbaumes Firmiana simplex. Sie folgern sich konsequent aus einer Entwicklung, die vor zwanzig Jahren mit der Herstellung von Papier aus Pflanzenmaterial be- gonnen hat. Längst genügt ihr das Schöpfen von Papier nicht mehr. Zu schön, zu wunderbar ist das Eingesammelte, als dass sie es zu Papierbrei verwandeln will. Vor allem vier Pflanzen bzw. Bäume sind es, die sie nach wie vor beschäftigen: Schachtelhalm, Ahorn (von dem sie die Monopteros-Samen verwendet), Linde und eben die Firmiana simplex.

Auf dem einen Teil (meist dem linken) ihrer Doppelbilder (seltener auf beiden) sind die blatt- artigen Firmiana simplex-Früchte leicht erkennbar. Sie hat sie in sorgsamer Überlagerung zu Pflanzenpapieren gefügt, die in einem weiteren Schaffensschritt auf die Leinwand aufgebracht werden. Auf der andern Hälfte des Diptychons ist die Struktur meist feinteiliger rhythmisiert; aber auch hier ergibt sich die Textur durch das Parasolbaummaterial und das gleiche Arbeitsprinzip.

Im Garten ihres Ateliers in Cavigliano bei Locarno kocht sie die Pflanzen in Natronlauge, spült sie, bleicht sie, spült wieder. Dann färbt sie die blattartigen Früchte, setzt sie zu hauchdünnen Kompositionen zusammen, die gepresst, dann auf den Bildträger übertragen werden und schliesslich eine vielschichtige farbige Haut bekommen – nach Goethes Devise «Blumen reicht die Natur, es windet die Kunst sie zum Kranze».

Den Chinesischen Parasolbaum hat Ruth Moro 1995 kennengelernt, als sie nach Japan fuhr, um den Preis der «Imadate Exhibition of Paper Art ’95» in Empfang zu nehmen. «Ich entdeckte in Kyoto per Zufall diesen Baum. Ich war durch dessen papierenen, blattartigen Früchte sofort angezogen und habe gleich eine Menge davon geerntet, um mit diesen Früchten zu Hause zu experimentieren. Da mich diese neue Materie jedoch nicht los liess, musste ich sie anderswo suchen. In den letzten fünf Jahren konnte ich dann die blattartigen Früchte der Firmiana simplex im Botanischen Garten der Universität La Sapienza in Rom ernten. Dort fand ich eine engagierte Unterstützung für meine Arbeit.»

Pagine Romane heissen die Bilder, weil sie ohne die papierenen, blattartigen Früchte der Firmiana simplex aus Rom nicht hätten entstehen können.

Ruth Moro überschreitet Grenzen. Viele ihrer Bilder haben etwas mit der bald hundertjährigen Tradition der monochromen Malerei zu tun. Wo sie zerfallendes, kleinteiliges Blattmaterial verwendet, wirken die Tafeln wie ungegenständliche, abstrakt-expressive Kunst. Wie könnte man aber Kunstwerke als ungegenständlich bezeichnen, wenn die papierenen, blattartigen Früchte der Firmiana simplex, also etwas Objekthaftes, eine zentrale Rolle spielen?

Näher als der monochromen Malerei steht Ruth Moro meiner Ansicht nach Künstlern wie Wolfgang Laib, der Materialien wie Blütenstaub, Milch und Reis zu Kunstwerken erklärt. Zu Kunstwerken, die von einer tiefen Liebe zur Natur getragen sind.

mehr ...

2011

Folium

Marco Franciolli, Direktor-Kurator Museo Cantonale d’Arte Lugano

Die Besessenheit der Nachahmung von Formen der Natur hat in der westlichen Kunst unzählige Meisterwerke hervorgebracht: Stillleben, Vanitas, Landschaften, Laubwerk, Bäume, Blumen, Blätter – die Künstler haben nie aufgehört, in der Pflanzengestalt eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration zu finden.

Von der symbolhaften Bearbeitung bis zum äusserst obsessiven Realismus, von der radikalsten Abstraktion bis zur poetischen Beschwörung, die Sprachen der Kunst scheinen jede Möglichkeit ausgeschöpft zu haben, die fundamentale Verbindung des Menschen mit der Natur auszudrücken. Und doch kann die Malerei noch überraschend neue Weisen hervorbringen, um diese Empfindungen auszudrücken, wie die Bilder von Ruth Moro beweisen.
Die Künstlerin betrachtet die Natur nicht, um sie nachzuahmen, sondern sie eignet sie sich buchstäblich an, indem sie Blätter oder Früchte in Rohstoff für ihre Bilder verwandelt. Mit einem langwierigen und komplexenVerfahren entfernt Ruth Moro die weichen Teile der Blätter, um die innere Blattäderung zu enthüllen, Seele oder Gerippe, welche im malerischen Werk semantische und strukturelle Werte bekommen. Zusammengefügt bilden die Pflanzenstrukturen ein Blatt, das die Grundlage für ihre Werke ergibt.
In einer früheren Phase ihrer künstlerischen Laufbahn wurden die Blätter in einem Plexiglas- Kästchen aufgehängt – eine Präsentationsart, welche die Struktur durch die Transparenz bewusst aufwertete. Der Effekt dieser durchsichtigen Blätter, die an unberührbare Insektenflügel erinnerten, war entfremdend. Die Pflanzenstruktur, ähnlich wie es bei der Mikrofotografie geschieht, war gleichzeitig erkennbar und geheimnisvoll. In den künstlerischen Arbeiten von Ruth Moro zeigt sich effektiv eine Art Makrovision der Blattstrukturen, welche ihre geheime Struktur enthüllen. Jede Pflanze hat ihren einzigartigen und unverwechselbaren Charakter, den die Künstlerin zu lesen und zur Geltung zu bringen versteht.
In der Folge begann Ruth Moro ihre Papierblätter auf Leinwand, und auf Rahmen oder Tafeln - den Bildträgern der westlichen Maltradition - zu montieren und dann auf chromatischer Ebene die Pflanzenstruktur der Blätter manchmal mit zarten und delikaten Farben aufzulösen oder sie mit kräftigeren und dichten Farben zu betonen. Unwillkürlich denkt man an die orientalische visuelle Kultur – nicht aufgrund von orientalischen Stilelementen, aber wegen der spürbaren kontemplativen Dimension der Naturbetrachtung, der speziellenVerwendung des Papiers und dem Gebrauch des Pflanzenelements.
Das Lemma Folium bezeichnet das Blatt, das Blütenblatt, das Blatt Papier, und es scheint die gleichen Phasen des Vorgehens von Ruth Moro abzubilden: vom Blatt zum Blatt Papier zum Bild. Die in diesem, anlässlich der Ausstellung im Museo Cantonale d’Arte veröffentlichten Katalog abgebildete Gruppe von Werken trägt den Titel Pagine romane. Der Werkzyklus wurde seit 2006 auf der Basis der Fruchtblätter der Firmiana simplex realisiert und setzt sich zusammen aus Diptychonen – eine Formwahl, die dem Werk ein weiteres Sinnelement hinzufügt. Nach dem Verarbeiten des pflanzlichen Materials, einer langwierigen Prozedur, mit der sie den Rohstoff für ihre Bilder erhält, beschäftigt sich Ruth Moro auf rein malerischer Ebene mit dem Thema des Doppels und des Paares. Die Gegenüberstellung der Strukturen und der Farben, welche die ganze Fläche der einzelnen Bildelemente ausfüllen, erzeugt Kontrapunkte und Harmonien und lässt die Suche nach einem idealen Dialog-Punkt erahnen, der die Zusammengehörigkeit der beiden Elemente aufzeigt, ihre Übereinstimmung oder die Spannung zwischen ihnen.
Die Strenge und die Tiefe der künstlerischen Suche von Ruth Moro erlauben es, jegliche Tendenz zur dekorativen Gefälligkeit auszuschliessen. Die sinnliche Schönheit der Gemälde bringt durch die Farbabstimmungen und die Zusammenstellung der Zeichenstrukturen ein raffiniertes Gleichgewicht zum Ausdruck. Der Beobachter wird aufgefordert, in eine besinnliche Dimension einzudringen, in der die Erfahrung der Kunst und der Natur sich endlich vereinigen.

Uebersetzung Margrit Hagenow-Caprez

mehr ...

1999

Licht-Kompositionen

Maria Will

Eher Spitzen ähnlich und nicht dem, was man gemeinhin unter einem Blatt Papier versteht, bestehen die Werke von Ruth Moro aus einer ihnen eigenen Unfassbarkeit. Unfassbarkeit, die manchmal zarter Schimmer ist, andere Male hingegen harte Körperlichkeit, aber so fremdartig gegenüber dem Bekannten, dass sie schon rätselhaft erscheint.

Es ist in der Tat eigenartig, wie eine solche Arbeit, die so eng und so ausschliesslich an das Material, aus dem es besteht, gebunden ist, dann zu Ergebnissen führt, die so weit davon entfernt sind, dass es dieses geradezu annulliert.
Dennoch, obwohl beim Anblick der Kompositionen von Ruth Moro, der spontane und legitime Verweis auf Gewebe, Zeichnungen, Gemälde, auch auf Glasbilder deutet (und es besteht kein Zweifel, dass sich weitere Möglichkeiten eröffnen können), ihr Bezug zur Herkunft, zum pflanzlichen Ausgangsmaterial ist unbestreitbar und wird dadurch paradoxerweise nur noch klarer: die kleinste ausdrucksfähige Einheit - das Zeichen - welches die einzelnen Werke charakterisiert, ist nämlich durch nicht anderes vorgegeben als durch die Struktur des pflanzlichen Elements selbst, das die Künstlerin jeweils als “Werkzeug” wählt (die Ahornfruchtflügel, die Früchte der “Firmiana simplex” eher als die Stiele des Schachtelhalms oder die Blüten der “Hydrangea quercifolia”, die zusammen mit den Linden-Hochblättern die bevorzugten Pflanzenfasern der Künstlerin sind).
Und genau innerhalb des prekären Gleichgewichts des äusserst feinen Spiels und innerhalb dieser besonderen Widersprüchlichkeit arbeitet Ruth Moro: die Fäden des Spiels in Händen zu halten, bedeutet dann, mit dem Ziel einer persönlcihen Recherche, einer Materie den Weg zu weisen, ihre eigenen Kräfte und Wesensarten ins Spiel zu bringen; die Materie wird zum Gesprächspartner.
Man befindet sich hier offensichtlich im Bereich der Technik, aber ebenso offensichtlich geht es auch darüber hinaus. Die Kunst der Papierherstellung, so wie Ruth Moro sie interpretiert, wobei sie in ihr ihre eigene Kreativität zum Ausdruck bringt, offenbart sich in einem sehr intimen und unerklärlichen Zusammenspiel eines ausführenden Moments, und eines schöpferischen, genauer gesagt, erfinderischen Moments. Ganz und gar im Einklang mit jener Kunstauffassung, die sich innerhalb der westlichen Zivilisation immer mehr durchsetzt als Synthese aller Fähigkeiten eines Individuums, im Gegensatz zum ausschliesslichen Vorrang der rein intellektuellen Fähigkeit, entspricht auch die Arbeit von Ruth Moro grundsätzlich dem Bedürfnis, die Harmonie zwischen Individuum und Universum, zwischen dem Sich und dem Anderen zu offenbaren und zu verbreiten. Die Stimme der Künstlerin hört somit auf, Einzelstimme zu sein, um zu einer Stimme zu werden, die die Vielfalt aufnimmt.
Die Stimme, oder besser der Gesang, der von den Arbeiten von Ruth Moro aufsteigt, ist ein Gesang, der sehr anmutig ist und sich in einer natürlichen, unmittelbaren Poesie ausbreitet, darauf ausgerichtet, flüchtige Eindrücke wie im Flug aufzunehmen; zart durchscheinend wie die Papiere, in deren Gewebe sich diese Poesie wie durch Zauberei verfängt.
Die Pole, zwischen denen das Werk von Ruth Moro entsteht und sich entfaltet, haben ihre extremste Formulierung im Kontrast zwischen der nicht sichtbar harten und sorgfältigen Arbeit, die ein solches Werk mit sich bringt, und dem sich behaupten im Licht der Struktur des Werkes selbst; in der Gegenüberstellung zwischen dem Chaos des ursprünglichen Materials und der harmonischen Ordnung, die die Künstlerin durch ihre Intervention einbringt.
In der Tat, es liegt schlussendlich an dem Licht, dem die Künstlerin ihre Kompositionen übergibt, dass es unmöglich ist, ihnen das Siegel einer dauerhaften Definition aufzudrücken: wie in die Luft gezeichnet, durch die transparente Wirkung, oder hervorgehoben durch ihre Texture mit einem studierten Hintergrund, verändern sich diese Kompositionen - die zu Lichtkompositionen werden - je nach Lichteinfall, wobei sie sich in das unaufhaltsame Fliessen der Zeit einreihen, die alles verwandelt.

Uebersetzung Wolfgang Simon

mehr ...

1999

Coloriti fiori et herba .....

Claudio Guarda

Seit seiner Erfindung stellte das Papier das geschmeidigste und leichteste Medium für den Menschen dar, seine Zeichen, wenn er solches wollte, zum Ausdruck zu bringen. Papier herstellen bedeutet eigentlich nichts anderes als eine Unterlage zu schaffen, die dazu bestimmt ist, Zeichen aufzunehmen, eine Schrift.

Wenn nun, wie durch einen merkwürdigen Zufall, diese Zeichen, statt auf dem Papier, aus dessen Innerstem hervorkämen, nicht die Zeichen, die der Mensch mit seiner eigenen Hand hinterlässt, sondern jene, die unter der Hülle des pflanzlichen Materials verborgen sind - wobei man die Schönheit von Blättern und Blüten hinter sich lässt, um zu den Gewebefasern vorzustossen, dann würde sich vor unseren Augen wahrscheinlich etwas Erstaunliches ereignen: und man würde die Grundformen der pflanzlichen Struktur wahrnehmen, harmonische Rhytmen, überraschende Uebereinstimmungen der Farbtöne, das schlichte franziskanische Gedicht von “Coloriti fiori et herba”. Und eben darin zeigt sich die höchste, aber auch gleichzeitig einfachste und natürlichste andere Art der Pflanzenpapierherstellung.

Jene von Ruth Moro entspricht einem stillen Ritual, das sich parallel zum Lauf der Sonne abspielt, in der Spanne der Jahreszeiten: es beginnt mit dem Sammeln des Grundstoffes, von Blättern, Blüten und Samen, die uns die überfliessende Natur grosszügigerweise schenkt oder zu unterschiedlichen Zeiten und Formen auf dem Boden verstreut. Erst später in der Zurückgezogenheit ihres Ateliers, eingetaucht in die Natur, wird dieses Material geduldig aussortiert, bearbeitet, gekocht, gewaschen, gereinigt, solange bis die innerste tragende Struktur zum Vorschein kommt, das heisst, diese feinen Verästelungen von Gefässen, die von einem zentralen Nerv ausgehen. Das Vorgehen erfordert äusserste Sorgfalt und Feingefühl, es folgt dem langsamen Dahinziehen der Wintertage: aber gerade in dieser langen Zeitspanne entsteht die Begegnung, dieses lange Abwarten wird Behorchung und Dialog - so dass die Grundstrukturen ihren Weg erahnen lassen.
Das, was diese feinsten Papiere von Ruth Moro auszeichnet, ist, dass die Künstlerin in dem Moment, in dem sie sie gestaltet, sich dem Material nicht aufdrängt, sondern es begleitet, ihm folgt, sich von seinen Formen und inneren Stimmen leiten lässt; in einem gewissen Sinn schafft sie eine Art kontrollierte Leere in sich, um sich von dem durchdringen zu lassen, was ihr die Natur selbst eingibt. Hinter ihrem Schaffen steht also nicht nur ein Suchen nach ästhetischen Ergebnissen, sondern eine mentale und spirituelle Einstellung, eine Bereitschaft zur Begegnung, eine andere Art, etwas zu betrachten und sich auf die Natur einzulassen, mit ihr zu leben, Schritt um Schritt mit ihren Rhytmen.
Es entstehen Ergebnisse von grosser Faszination und Natürlichkeit: manchmal sind sie aussagekräftiger und strukturierter, wenn die Komposition den strengen Rhytmus der Nervatur bevorzugt und betont; andere Male leicht malerischer und atmosphärischer, wenn im freien Spiel von Uebereinanderlagerungen dann auch unvorhergesehenerweise gebogene Linien und synkopische Rhytmen zum Vorschein kommen, Schwankungen in Tiefenschärfe und Farbabstufung im Wechsel von Weiss, Grau und Schwarz, die die Oberfläche des Papiers zieren.
Und während unser Auge wie verzaubert ist von dieser geheimnisvollen Welt zarter Durchsichtigkeiten, fast endlosen Schleiern gleich, die über zarte Spinnengewebe gespannt sind, kann sich unser Verstand nur mit den Fragen nach der überraschenden Verwandschaft und den tiefen Uebereinstimmungen beschäftigen, die plötzlich voneinander weit entfernte Kunstrichtungen scheinbar zusammenrücken lassen: von jener, die man im 20. Jahrhundert in Europa zur Blüte brachte (insbesondere Paul Klee), bis hin zur primitiven oder stammeszugehörigen Ausdruckskraft gewisser afrikanischer oder ozeanischer Völker, von den Tätowierungen im Amazonasgebiet, bis hin zu den Stoff- und Wanddekorationen, von den Zeichnungen auf Baumrinden der Mbuti, in Afrika, bis hin zu den farbenfrohen Stickereien (die Molas) der Kuna in Panama. Man wäre fast verführt zu sagen, dass Ruth Moro mit dieser entschleierten Stimme der Natur den Archetypus enthüllt, der den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen so verschiedenartigen und von einander weit entfernten künstlerischen Ausdrucksformen darstellt.
Diese kleinen Papiere - aber die Harmonie entstammt eben dem angeborenen Verhältnis zwischen dem natürlichen Grundstoff und dem ihm entsprechenden Gestaltungszeitraum - sind somit mit einem Zauber behaftet, der die Zeiten überschreitet und den Raum verkürzt: einmal herausgearbeitet und entblösst, gibt die pflanzliche Seele der Natur nicht nur ihre äusseren Strukturen preis, sondern auch die Poesie ihrer inneren Ordnung; nicht nur die Funktionalität ihrer Nervatur, sondern auch die geheime Musik ihrer Rhythmen und Farben; und in der Vollkommenheit eines Blütenblattes, das das Entstehen eines Papiers hervorbringt, indem es ihm innewohnende Rhytmen und Entwicklungsabläufe eingibt, erneuert und verbreitet sich die ganze “Harmonie der Gestirne”, sobald sie vom Licht getroffen und durchflutet sind. Mikrokosmos und Makrokosmos folgen einander und treffen sich.
Was bei Ruth Moro’s Kunst fasziniert, ist, dass sie aus einem Nichts entspringt, jedoch mit Geduld, Hartnäckigkeit und langem Abwarten einhergeht. Alles lebt in den zarten filigranen Linien eines Papiers, das uns den Blick auf eine Natur eröffnet, die uns zwar vertraut, aber auch ebenso fremd ist, damit jedoch deren verborgene Seele zum Vorschein bringt: vom kraftvollen Gewirr der Fasern bis zu den feinen Abstufungen der Nervatur, von der dichten Beschaffenheit des “ursprünglichen” Elements bis zur Ordnung einer natürlichen Geometrie. Bis zur luftigen Architektur ihrer letzten Kompositionen, fast Glasfenstern gleich - eingehaucht von der Struktur des Pflanzenmaterials selbst - durch die eine antike Masseinheit eindringt, das Licht eines fremden Horizonts.
Es sind zweifellos originelle Ergebnisse, worin das Echo neuer Stimmen erschallt, das Bedürfnis mit der Natur in Einklang zu stehen, wozu vor allem unsere Epoche dringend aufruft.

Uebersetzung Wolfgang Simon

mehr ...

1999

Alltagsklänge

Gedankensplitter, gesammelt von Giancarlo Moro

Das Ritual beginnt mit dem Sommer, mit der Suche nach dem Pflanzenmaterial und endet oft erst im vorgerückten Winter. Jedes Blatt oder Frucht offenbart zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Eigenschaften. Welches ist nun der beste Augenblick, um Ginkgo zu sammeln? Und wie ist es beim Ahorn oder dem Pfeifengras? Und der Schachtelhalm, soll er weiss oder braun sein?

Und wie ist es beim Ahorn oder dem Pfeifengras? Und der Schachtelhalm, soll er weiss oder braun sein? Man probiert es und probiert es immer wieder, Tag für Tag, und jeder Tag führt zu neuen aufregenden Erkenntnissen - oder zu neuen Enttäuschungen. Die Gefühlsregungen sind stark und der Zauber dieser Alchimie, das Pflanzliche in ein Papierblatt zu verwandeln, verwirrt die Sinne.
Mit den Jahren habe ich mehr als achtzig Pflanzen untersucht. Blätter, Rinden, Stiele oder Früchte, aber es sind vor allem vier oder fünf von ihnen, mit denen ich täglich arbeite, bei welchen ich immer wieder neue Reize und Emotionen suche.
In der Natur verwandelt sich alles. Es ist ein andauernder Prozess. Was verbirgt sich hinter den botanischen Erscheinungsformen einer Pflanze? Durch Umwandeln der Materie ist alles zu entdecken.
Das Kochen erfolgt in ätzender Natronlauge. Der Geruch ist beissend und penetrant, der Prozess gewaltsam. Am Ende bleibt nur die Struktur, das Gerippe der Pflanze mit ihrer Zellulose. Alles andere wurde wie bei einem Verwesungsvorgang beseitigt.
Aber wann soll man diesen Vorgang stoppen? Wann treten die ursprünglichen Eigenschaften der Pflanze zu Tage? Wann zeigt die Zellulose, welche das einzig vorhandene Bindemittel ist, ihre höchste Wirkung? Es ist wirklich schwierig, diesen Zeitpunkt zu bestimmen und deshalb muss man es immer und immer wieder probieren.
Dieses ständige Probieren und Wiederprobieren geht mit der Suche nach etwas Verborgenem, etwas Geheimem einher, was sich dann als Seele der Pflanze offenbart.
Dann stundenlanges Spülen. Die letzten zurückgebliebenen Unreinheiten werden entfernt. Dann bleicht man und spült wieder, färbt die Pulpe und spült wieder.
Erst jetzt beginnt das Gestalten: durch direktes Schöpfen in der Pulpe mit einer hölzernen Schöpfform, für Papier gleichartiger Strukturen. Dies ist die klassische Methode. Oder man arbeitet mit einer hölzernen Schöpfform, die auf dem Wasser schwimmt; die Pulpe wird auf dem Sieb verteilt und mit den Händen eingreifend erstellt man eine Komposition, wobei man mit den Zeichen spielt, die jede Pflanze bietet. Das Wasser, die Pflanzen und ich, wir wirken gemeinsam. Wir treten in einen Dialog ein, auf der Suche nach etwas Neuem, noch Verborgenem, das noch zu entdecken ist. Oder schliesslich, der Rahmen wird nur als Gestaltungsunterlage gebraucht, wobei man die charakteristischen Eigenheiten, die Geometrie ausnutzt, die in jeder Pflanze vorhanden, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar sind.
Die Zusammenstellung ist oft komplex, bedarf Zeit und Hartnäckigkeit, aber die Blätter, die dann entstehen, sind eber nicht nur einfach Papier, sondern vielmehr Papier und dessen Zeichen, jene der Pflanzenseele, und sie werden zu Papierblättern durch ihre eigenständige Kraft, ihre originelle Ausdrucksweise.

Und das Ritual geht mit dem Trocknen unter der Presse weiter, zwischen Tüchern und Holzpappen, die bis zur vollständigen Trocknung immer wieder erneuert werden, solange bis man ihre zerbrechliche Robustheit zwischen den Fingern spürt und mit den eigenen Augen wahrnimmt, was sie zu erzählen haben.

Uebersetzung Wolfgang Simon

mehr ...